2017-09-18 08:30:00

Flucht aus Afrika: „Ortkirche muss besser aufklären“


Auch wenn Europa seine Außengrenzen zunehmend dichtmacht – der Wille unzähliger Afrikaner, auf der Suche nach einer besseren Zukunft nach Norden zu ziehen, ist ungebrochen. Das beobachtet die Don Bosco-Schwester Maria Rohrer, die mehr als 40 Jahre in verschiedenen afrikanischen Staaten gewirkt hat. Die Ordensfrau, die derzeit in Tunesien arbeitet, plädiert im Interview mit Radio Vatikan für eine systematische Aufklärungskampagne auf dem afrikanischen Kontinent, um die Menschen von einer Abwanderung abzuhalten und ihnen vor Ort Alternativen aufzuzeigen. Hier sollten auch die afrikanischen Ortskirchen aktiver werden, findet sie.

Der Traum von Europa

Tunis ist eine Drehscheibe für afrikanische Flüchtlinge und Migranten auf ihrem Weg nach Europa. Die Schwarzarbeit blüht, ebenso seit einigen Jahren der Menschenhandel, dessen Hauptroute vom südlichen Afrika über Tunesien und das Nachbarland Libyen verläuft. Unmittelbar nach dem Arabischen Frühling waren es vor allem Tunesier, die sich nach Europa einschifften. Heute sind es zumeist Schwarzafrikaner aus Elfenbeinküste, berichtet Rohrer. Auch in der Pfarrei der Don Bosco-Schwestern schlage sich das nieder: „Mindestens die Hälfte der Leute, die am Sonntag in unsere Kirche kommen, sind aus dieser Region. Und es kommen immer wieder neue und neue Menschen an, das ist ein Kommen und Gehen…“

Die meisten der in Tunesien gestrandeten Migranten seien nicht registriert und könnten keinerlei Rechte in Anspruch nehmen. Dies macht sie zur leichten Beute für dubiose Arbeitgeber, die ihre Notlage ausnutzen. Während sich im Vorzeigeland des Arabischen Frühlings langsam demokratische Knospen zeigen, etwa im Bereich der Frauenrechte, sind Flüchtlinge weiter völlig schutzlos. Vor allem Migrantinnen und Minderjährige auf der Flucht gehen in die Netze des organisierten Verbrechens. Mit Sorge beobachten die Don Bosco-Schwestern in Tunis seit ein paar Jahren die Ausbreitung moderner Formen von Sklaverei wie Menschenhandel, Zwangsarbeit und Zwangsprostitution. Dahinter stünden kriminelle Netzwerke, die sich schon in den Herkunftsländern ihre Opfer suchten, so Rohrer.

„Dann heißt es in Elfenbeinküste: ,Du bist meine Freundin, ich habe eine tolle Arbeit für dich in Tunesien, ich kann dir alles bezahlen.‘ Dann bekommen diese Frauen einen Pass, der wird ihnen am Flughafen aber sofort weggenommen, und sie kommen hier in Familien zur Arbeit oder in Restaurants oder ins Sexgewerbe. Man sagt ihnen: ,Hier ist nun die Rechnung, bezahle so und so viel für dein Ticket und die Arbeit, die wir gehabt haben, damit du herkommen konntest. Und wenn sie ihre Schulden abgearbeitet haben, wird ihnen sehr oft der Pass nicht zurückgegeben, er ist angeblich zufällig verloren gegangen.“

Nach den Ferien blieb die Schulbank leer

In die Hände spiele diesen Kriminellen einerseits die völlige Schutzlosigkeit der Migranten: „All diese Leute existieren offiziell nicht vor dem tunesischen Staat“, bringt Rohrer es auf den Punkt. Andererseits seien viele afrikanische Migranten dazu bereit, große Opfer in Kauf zu nehmen, um nach Europa zu gelangen – wie es scheint, um jeden Preis. Wie eine aktuelle Studie von UNICEF und der Weltmigrationsbehörde OIM zeigt, sind 77 Prozent der jungen Mittelmeerflüchtlinge zuvor Opfer von Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel geworden.

Die gebürtige Schweizerin vom Orden der Don Bosco-Schwestern ist in Tunis seit ein paar Jahren in einem Jugendzentrum für Studenten tätig, das vom Hilfswerk „Jugend Eine Welt“ ermöglicht wurde. Dabei hat sie auch viel mit Studenten zu tun, die aus anderen französischsprachigen Ländern zur Ausbildung herkommen. Selbst bei diesen jungen Leuten, die eigentlich gut ausgebildet seien, sei der Traum von Europa eine „fixe Idee“. Sie sähen in ihren Heimatländern keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der durch Korruption zersetzt sei.

„Dann studieren sie hier fünf Jahre, haben ein Diplom als Ingenieur zum Beispiel. Aber sie wollen nicht nach Hause zurück und sagen mir: ,Da finde ich keine Arbeit - wenn du dort nicht einen Onkel o.ä. hast, der dir hilft.’ Die Mentalität ist also: In Afrika kann man nichts machen, aber in Europa ist es toll. Und am Ende gebrauchen sie ihr Schulgeld, um die Schlepper zu bezahlen.“

Durch solche Fälle sei die Don Bosco-Gemeinschaft darauf aufmerksam geworden, dass die Schlepper auch in Tunis längst ihre Geschäfte machten. Insgesamt 200 Studenten seien seit den Sommerferien einfach verschwunden – sie waren im Mittelmeer ertrunken.

Um die illegale Migration zu stoppen, haben die tunesischen Behörden zuletzt den Grenzschutz mit EU-Hilfen ausgebaut. Zusätzliche Schiffe, Helikopter und Schulungen für die Küstenwache sollen dazu beitragen, illegale Überfahrten über das Mittelmeer zu verhindern. Dazu Schwester Rohrer: „Es wird wirklich was gemacht. Derzeit heißt es zwei, drei Mal in der Woche, dass wieder ein Schiff zurückgebracht wurde.“

Fehlende Aufklärung in den Herkunftsländern

Mit dem Sichern der Grenzen ist freilich aber nur ein kleiner Teil getan, um illegale Migration und den Menschenhandel zu stoppen. Vielmehr müsste bereits in den Herkunftsländern der Migranten Aufklärungsarbeit geleistet werden, findet Rohrer: „Wenn sie einmal hier sind, ist es zu spät zu sagen, geh nach Hause, in Europa kannst du nichts haben. Das muss in den Ländern, aus denen sie kommen, geregelt werden.“

Einerseits brauche es eine konkrete Verbesserung der Lebensumstände, Armut und Korruption müssten bekämpft werden. Andererseits brauche es auch einen Mentalitätswandel: Die Menschen müssten zum Bleiben ermutigt und über die Gefahren einer Reise nach Europa informiert werden. Hier müsse auch die Ortskirche stärker die Augen öffnen, merkt die Ordensfrau kritisch an:

„Unser Bischof war vor zwei Jahren in Elfenbeinküste und hat dort verschiedene Bischöfe getroffen – und die wussten von dem (Drama der Mittelmeerflüchtlinge, Anm.) nichts! Sie haben die Leute unterstützt: ,Ja, geht, geht!’ Und einer hat sogar gesagt: ,Ich kann einfach nicht verstehen, dass die europäischen Boote so schlecht sind, dass die immer untergehen.’“

Über so viel Blauäugigkeit kann Rohrer nur den Kopf schütteln. Es sei allerdings auch nicht einfach, die Migranten davon abzuhalten, ihren Traum von Europa an den Nagel zu hängen oder zumindest einmal auf Herz und Nieren zu prüfen, räumt sie dann ein:

„Zum Beispiel hat mir eine Frau gesagt: ,Bis jetzt habe ich meine Mutter gepflegt, jetzt ist sie gestorben und ich will etwas vom Leben haben und gehe jetzt nach Europa.‘ Die Frau hat aber keine Ausbildung und nichts! Dann sagen wir ihr: ,Ja, und wenn du ertrinkst? Oder in ein Auffanglager kommst? Oder in Paris auf der Straße endest? - ,Das passiert nicht, dann renne ich weg…‘ - sie haben zu allem eine Antwort. Die Idee ist da und die Mentalität ist da, viele werden auch von der Familie unterstützt, es wird eine Kuh verkauft oder irgendwie Geld aufgetrieben, dass jemand der Familie nach Europa kann, um dann Reichtum zurückzubringen. Die Mentalität ist ungefähr dieselbe, wie damals, als Europa nach Amerika emigrierte - vor über 100 Jahren.“

 

(rv 18.09.2017 pr)

 








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