2017-08-27 08:00:00

„Nur eine Welt entfernt": Ein deutscher Lehrer in Kabul


„Afghanistan hatte ich nie auf dem Schirm“, gibt Tobias Kirschbaum zu. Und doch reiste der Lehrer aus Lünen in Nordrhein-Westfalen im Mai diesen Jahres genau dorthin, um im Rahmen eines Bildungsprojekts der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) afghanische Physiklehrer zu trainieren.

„Die Arbeit sieht so aus, dass in diesem konkreten Projekt drei weiterführende  Schulen in Kabul zu Modellschulen ausgebildet werden soll. Das heißt, sie werden räumlich ausgestattet; zunächst einmal kriegen sie eine Heizung, damit da auch im Winter Unterricht stattfinden kann; und dann sollen die afghanischen Kollegen trainiert werden, damit der Unterricht moderner und besser wird und sie sich selbst auch erst einmal sicherer fühlen. Durch die jahrzehntelange Kriegssituation ist auch die Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen dort sehr rudimentär. Man weiß auch nicht immer, warum jemand unterrichtet. Vor allem haben die Leute nie gelernt, was guter Unterricht sein kann, sondern sie haben es so übernommen, wie sie es selbst kennen.“

Westfalen mit Kabul getauscht

Zwei Wochen lang tauschte Tobias Kirschbaum seinen Arbeitsplatz in Westfalen mit der Amani High School in Kabul. Er trainiert mit den Lehrern, die meistens reinen Frontalunterricht und das Auswendiglernen aus Büchern kennen, was Lernen überhaupt heißt; wie man Schüler motivieren und wie mit verschiedenen Lernvoraussetzungen umgehen kann. Das geht natürlich nur mit Übersetzer, der alles in die Regionalsprache Dari vermittelt. Drei Einsätze waren für dieses Jahr geplant – doch wegen der verschlechterten Sicherheitslage in Afghanistan kann Tobias Kirschbaum nun nicht wie geplant im September zum zweiten Mal nach Kabul fliegen. Dieses Jahr wurden in Afghanistan bereits 12 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen getötet, zuletzt Mitte August drei Angestellte der Caritas USA.

„Momentan ist alles gestoppt. Nach dem Anschlag mit dem Tanklastzug kurz vor der Deutschen Botschaft hat das Risk Management alle deutschen Mitarbeiter aus Afghanistan abgezogen. Die GIZ steuert die Projekte, so gut es geht, vom Ausland aus.“ Aber Trainings vor Ort gibt es aufs Weitere nicht – wie sich die Lage in Zukunft entwickelt, ist noch unklar.“

Die Lage ist unklar

Sicherheitsbedenken gab es schon bei seinem ersten Einsatz. Von Familie und Freunden hatte der vierfache Vater zwar hauptsächlich Unterstützung bekommen. „Meine Familie hat mir den Rücken freigehalten. Meine Frau hat gesagt: Eigentlich musst du das machen.“, erzählt er. Es war eine ehemalige Schülerin und jetzige GIZ-Mitarbeiterin, die Kirschbaum ansprach. Sie erinnerte sich, dass er allen Anforderungen für die Projekte entsprach: Physik- und Englischlehrer, zudem Lehrercoach mit einer interkulturellen Zusatzqualifizierung. „Ich hatte das Gefühl, das war jetzt meine Aufgabe, die Chance, mal nicht nur zu reden, sondern die eigenen Überzeugungen zu testen.“ Das erste Mal erlebte er in Afghanistan den Alltag eines Landes im Ausnahmezustand. Die GIZ-Mitarbeiter haben vor Ort strenge Sicherheitsauflagen.

 „Man wird also ständig überwacht. Es gibt Telefonkontakte mit dem Risk Management Office; die legen vorsorglich fest, wann ich wo hin kann; es gibt eine „no walking policy“. Die größte Gefahr für Externe wie mich ist eine mögliche Entführung um Geld zu erpressen. Dementsprechend ist man dort nur in gepanzerten Wagen und in als sicher deklarierten Gebäuden unterwegs.“

Vor diesem Hintergrund denkt Kirschbaum auch viel über die aktuelle Flüchtlingsdebatte in Deutschland und Abschiebungen nach Afghanistan nach.

Gepanzerte Wagen und no walking policy

„Ich halte Afghanistan in keinem Fall für ein sicheres Herkunftsland. Und halte die wieder aufgenommen Abschiebepraxis von der deutschen Regierung für äußerst fragwürdig, wenn nicht sogar fast menschenverachtend. Dass der zuständige Minister sich selbst nur mit Schutzweste und Helm in Afghanistan bewegt hat – in einem sicheren Gebiet, wo ich frei herum gelaufen bin und wo Afghanen gar nicht hereinkommen – das finde ich seltsam. Die Argumentation geht ja auch in die Richtung, dass bestimmte Regionen verhältnismäßig sicher sind oder seien. Aber selbst Kabul gilt jetzt nicht mehr als sicher, und trotzdem soll dort wieder hin abgeschoben werden. Das finde ich unredlich den Menschen gegenüber.“

Selbst durch die Straßen laufen durfte er nicht; als er einmal von einem Souvenirstand ein Andenken für seine Frau und Kinder kaufen wollte, musste er einen Afghanen bitten, dies für ihn zu tun.

Über seine Erfahrungen in dem Land, dass die meisten Deutschen nur durch die negativen Schlagzeilen kennen, schreibt Tobias Kirschbaum auch einen Blog. Gedacht ist er als Reflexion der eigenen Eindrücke, aber auch, damit die Leute Zuhause regelmäßig Nachrichten bekommen und seine Erlebnisse nachvollziehen können. Unter dem Titel „Just a World Apart“ – „Nur eine Welt entfernt“ – spricht er darin auch über kulturelle Herausforderungen.

Im Blog nachzulesen

„Ich habe erst dort gemerkt, bei aller Offenheit, die ich mir selber zuschreiben würde, wie stark ich dann doch von Vorurteilen beziehungsweise von einem europäischen Blick geprägt bin. Ich habe ganz viel gelernt, erst einmal zuzuhören. Zuzuhören, wahrzunehmen, anzunehmen, zu beobachten und dann nachzufragen: Warum ist das so? Was meint ihr damit? Ich habe viel gelernt über Stereotype. Ich habe natürlich vorher gedacht: Frauen sind da alle unterdrückt. In meinen Trainingskurs waren 15 Kollegen, davon 13 Frauen, die ich als sehr emanzipiert, sehr selbstbewusst, sehr klar erlebt habe. Die natürlich alle Kopftuch getragen haben, aber Kopftuch heißt dort erst einmal: es ist eine respektvolle Frau, die ein Kopftuch trägt. Und man achtet sehr auf gegenseitigen Respekt.“

Vor allem die Höflichkeit und Dankbarkeit untereinander beeindruckten ihn. Doch auch die Erfahrung, in einem Krisenland zu leben, war für Kirschbaum neu und hinterließ bleibende Eindrücke.

Höflichkeit und Dankbarkeit

„Natürlich war das ganz viel Waffenpräsenz und Security; es waren immer noch Panzer unterwegs, wenn auch etwas versteckter; man wurde ständig kontrolliert. Alls das war nach zwei Tagen für mich völlig normal. Das fand ich im Nachhinein schon fast erschreckend: Wie schnell diese Brutalität von einem Kriegsgebiet alltäglich wird.“ Und auch das Leben der Menschen dort mit dieser langen Kriegsgeschichte, das geht weiter. Es gibt ganz viele Menschen, die einfach nur in Frieden leben möchten; die mit ganz viel Zuversicht nach vorne gucken und ihr Land mit viel Elan und Energie wieder aufbauen wollen.“

Diese Erfahrungen möchte Tobias Kirschbaum nun weitergeben. Er sieht es als Teil seiner Aufgabe, über das Gesehene zu reden, denn: „Ich habe von Afghanen gehört, die gesagt haben: Wir werden in den Medien entweder als Terroristen oder als Rauschgiftanbauer wahrgenommen. Aber wir sind doch nur ganz normale Menschen.“

(rv 22.08.2017 jm)








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