2017-08-12 11:00:00

Buchtipp: Ohrfeige


Er ist ein „sprachsensibler Beobachter der Verzweiflung, Verstörtheit, Wut und Hoffnung junger Männer, die ihre Heimat verlassen müssen und Zuflucht in Europa suchen". So beschreibt die Jury des Adelbert-von-Chamisso-Preises den diesjährigen Preisträger Abbas Khider. Seit 1985 - und da leider die Fördermittel gestrichen werden dieses Jahr zum vorerst letzten Mal - zeichnet sie herausragende Autoren aus, die auf Deutsch schreiben, obwohl ihre Muttersprache eine andere ist. Abbas Khider floh 1996 als politisch Verfolgter aus einem Gefängnis in Bagdad und lebte als Illegaler in verschiedenen Ländern. 2000 beantragte er in Deutschland Asyl. „Ich bin wie eine Kolonialmacht“, beschreibt Khider seine Beziehung zur deutschen Sprache. Er eroberte sie schnell, studierte Philosophie und Literaturwissenschaften und schrieb erfolgreich über „Die Orangen des Präsidenten“ oder „Briefe in die Auberginenrepublik“.

2016, im Jahre der sogenannten „Flüchtlingskrise“, verarbeitet Abbas Khider die Erfahrungen mit der deutschen Asylmaschinerie zu seinem vierten Roman „Ohrfeige". Er begleitet darin den irakischen Flüchtling Karim Mensey, der nur eins will: Dass ihm endlich einmal jemand zuhört. Um dies zu erreichen, ergreift er eine drastische Maßnahme. Er bindet Frau Schulz, seine Sachbearbeiterin bei der Ausländerbehörde, an ihrem Schreibtischstuhl fest und klebt ihr den Mund zu. Dann erzählt er ihr seine Lebensgeschichte. Der Leser bekommt schnell mit: Karim ist eine vielschichtige Person und nicht nur eine Nummer in der Kartei des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.

Im Irak konnte Karim nicht bleiben. Sein Ziel ist Paris – als sich jedoch nach tagelanger Fahrt die Heckklappe des Lastwagens öffnet, findet er sich nicht in der Banlieue wieder, sondern im tiefsten Bayern. Ein Missverständnis, stammelt Karim auf Arabisch, er will weiter zu seinem Onkel in Frankreich. Doch niemand hört ihm zu, stattdessen nimmt man seine Fingerabdrücke und erklärt, er könne jetzt nur noch in Deutschland Asyl beantragen. Von da an beginnt sein persönliches Theater des Absurden. „Wir konnten nichts anderes tun als warten, und wurden von Tag zu Tag dämlicher.“ So beschreibt Karim die Zeit im Asylantenheim in Ansbach.

Er erzählt von endlosen Behördengängen, vom Kampf um Hoffnung und Würde, mit dem er und seine Mitbewohner versuchen, den Alltag im fremden Deutschland zu meistern. Alle haben ihre kleinen Geheimnisse, viele gleich mehrere „Biographien“. Ein bitteres Fazit: Menschenschmuggler, Schlepper und andere Kriminelle helfen diesen Menschen mehr weiter, als "alle Mitarbeiter von Amnesty International zusammen". Die deutsche Asylpolitik schaffe immer mehr Arbeitsplätze für Verbecher, sagt Khider.

Deutsche lernt Karim in dieser Zeit kaum kennen – es fehlt an Kontaktmöglichkeiten, und einen Deutschkurs darf er auch nicht machen. Dafür kennt er schon bald alle Polizisten, denn ständig halten sie ihn und alle anderen „Schwarzhaarigen“ an und verlangen, ihre Ausweise zu sehen. Um das zu vermeiden, empfiehlt Autor Abbas Khider im ARD-Interview augenzwinkernd, eine Ausgabe der Süddeutschen oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei sich zu tragen. Damit mache man sich unverdächtig. Am Ende des Romans erwartet Karim das Unvermeidliche: Die Ablehnung seines Asylantrags. Der „Fall“ Karim ist damit abgeschlossen; wie geht es für den Menschen Karim weiter?

Abbas Khider schreibt knapp, sachlich und unverblümt. In seinem Roman geht es nicht um political correctness. Er braucht die Dinge auch gar nicht künstlich aufzublasen, denn die Absurdität, mit der die Asylbewerber in Deutschland konfrontiert sind, reicht an sich schon für ein Realdrama, das sich aktuell tausendfach wiederholt. Auf Missstände hinzuweisen ist „eine von unseren vielen Aufgaben“ als Künstler und Autoren, meint Khider. Sein Buch ist ein seltenes Glück für deutschsprachige Leser: Sie erhalten dadurch die Chance, zur allgegenwärtigen Flüchtlingsdebatte die authentische Stimme eines Autors zu hören, der Flucht und Asylprozess aus eigener Erfahrung kennt. So wie die Sachbearbeiterin Schulz bleiben in „Ohrfeige" die Deutschen stumm. Stattdessen redet eine Gruppe, die sonst meist nur Objekt von Berichterstattung ist. Es lohnt sich, zuzuhören.

Abbas Khider: „Ohrfeige“. Erschienen im Hanser-Verlag. Preis: 19,90 Euro 

(rv 10.08.2017 jm)








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