2017-07-26 12:58:00

UNICEF-Studie: Europa nicht das Wunschziel junger Migranten


Eigentlich wollten sie ursprünglich gar nicht nach Europa: Das antworteten junge Migranten im Rahmen einer neuen UNICEF-Studie über die Fluchtursachen und Erfahrungen von geflüchteten oder migrierten Jugendlichen in Europa. Ninja Charbonneau ist Pressesprecherin bei dem deutschen Büro des Kinderhilfswerks. Wir haben sie gebeten, uns die Ergebnisse der Studie genauer zu erläutern.

Ninja Charbonneau (UNICEF): „Wir haben in der neuen Studie festgestellt, dass zumindest von den Jugendlichen, die in Italien ankommen, und die zum Großteil aus afrikanischen Ländern stammen, 75 Prozent die Entscheidung zur Flucht ganz alleine getroffen haben, ohne Absprache und häufig auch ohne das Wissen ihrer Eltern. Das fand ich überraschend, aber auch, dass rund die Hälfte der Jugendlichen gesagt hat, dass Europa gar nicht ihr ursprüngliches Ziel war. Häufig sind sie zunächst in eines der Nachbarländer aufgebrochen und haben sich erst nach und nach dazu entschlossen, weiter zu ziehen.“

RV: Sie sprechen in ihrer Studie davon, dass es wesentlich mehr „Push-Faktoren“ gibt, die die Jugendlichen aus ihrer Heimat vertreibe - das heißt, dass sie keine andere Möglichkeiten sehen, keine anderen Chancen, als ihre Heimat zu verlassen, was ja kein Mensch leichtfertig tut - als so genannte „pull-Faktoren“, die die Jugendlichen nach Europa locken. Was sind denn diese Push-Faktoren, die die Jugendlichen dazu bringen, letztlich doch die sehr gefährliche Reise nach Europa zu wagen? 

UNICEF: „Viele haben den Kollegen gesagt, dass sie ursprünglich wegen der Konflikte in ihrer Heimat geflohen sind, aber auch wegen fehlender Bildungs- oder Arbeitsmöglichkeiten, also insgesamt Armut und Perspektivlosigkeit, das aber letztendlich der schlimmste Teil ihrer Reise – oder besser oft jahrelangen Odyssee – Libyen war, weil die Zustände dort so schrecklich waren. Viele haben berichtet, dass sie gekidnappt oder gefoltert und für Lösegeld festgehalten worden sind. Einige haben auch berichtet, dass sie willkürlich eingesperrt und schlecht behandelt worden sind. Und dieser Teil der Reise war so traumatisierend, dass sie, wenn es ihnen gelungen ist, wieder frei zu kommen, lieber ihr Leben auf dem Mittelmeer riskiert haben als dort zu bleiben.“ 

RV: Wo wollten die jungen Migranten denn eigentlich hin, wenn sie ursprünglich gar nicht nach Europa wollten?

UNICEF: „Häufig war ihr Ziel eines der Nachbarländer, also gar nicht so weit weg von Zuhause, je nachdem, wo sie herstammen, sondern einfach zu sehen, dass sie woanders Arbeit und bessere Lebensumstände finden. Wenn diese Hoffnungen dann enttäuscht worden sind, haben sie sich dazu entschlossen, weiter zu ziehen, mussten in der Regel unterwegs arbeiten, um sich die Weiterreise zu finanzieren. Das heißt, die Hälfte der Jugendlichen, mit denen wir gesprochen haben, hatten gar nicht so ein klares Ziel, eine klare Route, sondern das hat sich im Lauf der Zeit dann so entwickelt.“ 

RV: Wie stellt sich denn die Situation dann in Europa dar? Finden die jungen Leute, wenn sie einmal hier ankommen, was sie sich erhofft haben?

UNICEF: „Häufig nicht. Wir haben in dieser Studie die Situation in Griechenland und Italien untersucht, die die beiden Haupteingangstore für Europa vom Mittelmeer aus darstellen. Da ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild. In Griechenland finden wir hauptsächlich Kinder und Jugendliche vor, die mit ihren Eltern und ihrer Familie nach Europa kommen, während wir in Italien vor allem Jugendliche haben, die ganz allein unterwegs sind und die mit ihrer Flucht große Hoffnungen verbunden hatten und erwartet haben, hier schnell ihre Bildung wieder aufnehmen zu können, Arbeitsmöglichkeiten zu finden… Stattdessen landen sie in Aufnahmezentren und sehr langen bürokratischen Prozessen, die sie auch häufig gar nicht richtig verstehen. Oft stellt sich dann auch Frust ein und viele von den Jugendlichen machen sich von dort aus dann wieder auf eigene Faust auf den Weg, in der Hoffnung, dass es woanders besser wird oder sie vielleicht schneller Anschluss finden.“ 

RV: Was für Forderungen erheben Sie denn auch angesichts der Erkenntnisse dieser Studie an die Politik? Wie sollte man mit den Ergebnissen, die Sie hier präsentieren, umgehen?

UNICEF: „Wir fordern, dass einerseits wirklich ernst gemacht wird mit der viel beschworenen Fluchtursachenbekämpfungen, das heißt, dass wirklich mehr unternommen wird, um die Konflikte zu stoppen, die Millionen von Kindern und Jugendlichen weltweit überhaupt erst in die Flucht treiben. Aber auch, dass mehr unternommen wird, um die extreme Armut und den Hunger zu beenden und dass mehr in die Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen vor Ort investiert wird. Überdies muss es auch legale Zugangswege nach Europa geben. Denn wenn die einzige Möglichkeit ist, auf so irregulären Wegen und illegal nach Europa zu reisen und man sich dazu in die Hand von Schleppern und Kriminellen begeben muss, dann setzt das gerade Kinder und Jugendliche großen Gefahren aus und sie müssen dringend besser geschützt werden.“

(rv 26.07.2017 cs)








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