2017-06-15 11:30:00

Immer mehr Kinder flüchten allein übers Mittelmeer


Die Zahl kommt von „Save the Children“, und sie ist alarmierend: 60.000. So viele Kinder und Jugendliche haben sich in den letzten fünf Jahren allein, also ohne erwachsene Begleiter, auf die gefährliche Flucht über das Mittelmeer nach Italien gemacht. Man kann noch ein bisschen Statistik dazuliefern: In diesen fünf Jahren, also zwischen 2011 und 2016, ist die Zahl um das Sechsfache angestiegen.

Sie kommen vor allem aus Eritrea, Ägypten, Gambia, Somalia, Nigeria und Syrien. „Save the Children“ hat viele ihrer Geschichten, und nicht nur die Statistik, online gestellt, um darauf aufmerksam zu machen, dass es hier nicht mehr um einen Ausnahmezustand geht, sondern es sich um ein strukturelles Problem handelt. Die Tendenz bei den minderjährigen Migranten nach Italien lautet: immer jünger, immer gefährdeter. Ein Minderjähriger von sechs, die Italien erreichen, ist weniger als 14 Jahre alt.

„Der Großteil der nicht begleiteten, ausländischen Jugendlichen ist männlich, das sind Jungen“, erklärt uns Raffaela Milano von „Save the Children“. „Aber es gibt eine Komponente, die sich derzeit verstärkt. Das sind minderjährige Mädchen, die in diesem Moment vor allem aus Eritrea und Nigeria kommen und deren Migrations-Parcours noch um einiges härter ist. Viele von ihnen haben Gewalt erlebt, und speziell junge Frauen aus Nigeria sind vom Moment ihres Aufbruchs an in den Händen von Menschenhändlern.“

Warum diese jungen Leute aus ihren Heimatländern davonlaufen? Die Gründe sind vielfältig. Manchmal ist es schlicht und einfach Hunger. In Eritrea ist es der obligatorische Militärdienst, in Ägypten die heftige Wirtschaftskrise. In Guinea und Nigeria Armut und Epidemien. Die jungen Leute kommen oft aus armen, ländlichen Gegenden, viele haben sich in Städten vergeblich um Arbeit bemüht. Um dem Alptraum zuhause zu entkommen, haben ihre Familien und sie sich oft hoch verschuldet.

„Diese Reise-Schulden sind im Lauf der Reise oft stark gestiegen, etwa bei der Etappe in Libyen. Dort werden viele junge Migranten entführt, und von den Familien wird Lösegeld verlangt, erst dann lässt man sie wieder frei. Diese Schulden sind eine große Last auf ihren Schultern, und darum tappen sie sehr leicht in die Falle totaler Ausbeutung. Da werden ihnen Arbeiten angeboten zu völlig lächerlicher Bezahlung, ohne irgendeine Sicherheit, und manchmal rutschen sie dann auch in die Kleinkriminalität ab.“

Die meisten jungen Migranten aus Eritrea, Syrien und Afghanistan, die es bis Italien geschafft haben, wollen nicht dort bleiben, sondern weiterziehen in andere Teile Europas. Dafür nehmen sie dann neue Risiken in Kauf: Allein im Jahr 2016 sind etwa 6.000 solcher Jugendlicher einfach verschwunden.

„Mit den europäischen Regeln ist es sehr schwer. Die Umverteilung, von der man so viel gesprochen hat, betraf nur einige wenige Fälle von minderjährigen Migranten, die kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Der Großteil dieser jungen Leute macht sich also unsichtbar, um irgendwie die Grenze zu überschreiten. Oft werden sie an der Grenze abgewiesen, und dann vertrauen sie sich eben einem neuen Netz von Menschenhändlern an.“

Vor allem ägyptische Jugendliche allerdings wollen gern in Italien bleiben. Doch auch hier treffen sie auf viele Schwierigkeiten, sagt Frau Milano: Überall lauern Hürden, egal ob im Aufnahmesystem, bei der Einschulung oder bei der Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Ein neues Gesetz soll die Integration der Migranten in Italien erleichtern; die Regierung nennt es das erste dieser Art in ganz Europa, und tatsächlich haben an dem Entwurf auch die NGOs kräftig mitgewirkt. Ein einheitliches, nationales System soll da entstehen, strukturiert, effizient, mit präzisen Regeln, was etwa die Familienzusammenführung betrifft.

„Das ganze Gerüst des Gesetzes ist darauf ausgerichtet, eine Weiter-Flucht zu vermeiden“, erklärt Antonella Inverno, die Rechtsexpertin von „Save the Children“. „Uns war aufgefallen, dass die jungen Migranten dem Schutzsystem in Italien misstrauten. Das lag an einem zeitlich zu ausgedehnten Verbleib in den Aufnahmezentren und am Fehlen eines klar benannten Tutors, der den Minderjährigen individuell betreut. Wir denken, dass man einheitliche Prozeduren auf dem ganzen Staatsgebiet garantieren muss, mit klar geregelten Fristen. Dadurch kann dann Vertrauen entstehen zwischen dem Minderjährigen, der unbegleitet nach Italien kommt, und den Behörden, die sich mit ihm befassen müssen.“

Das neue Gesetz, das zwar schon vom Parlament verabschiedet, aber noch nicht in Kraft getreten ist, errichtet keine großen Hürden, was die Tutoren betrifft: Fast jeder Gutwillige darf demnach künftig minderjährige Flüchtlinge und Migranten betreuen. Frau Inverno findet das gut. „Es hat uns aufhorchen lassen, als wir festgestellt haben: Die Leute, die diese Migranten kennengelernt haben, waren alle Sozialarbeiter. Das wollten wir ändern. Wir hoffen, dass dieses Gesetz zu einer realen Integration führt – das verläuft über einen Kontakt und eine Beziehung zu jemandem, der das nicht beruflich macht.“

(rv 15.06.2017 sk)








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