2017-06-02 11:30:00

Botschafter Thölken: Humanitäre Hilfe ist politischer Imperativ


Die internationale Gemeinschaft schlägt Alarm: In der Tschadsee-Region zeichnet sich die nächste Hungerkatastrophe in Afrika ab. Millionen Menschen sind dort von akutem Hunger bedroht. Das bestätigt im Gespräch mit Radio Vatikan der deutsche Botschafter bei den humanitären Organisationen der Vereinten Nationen mit Sitz in Rom, Botschafter Hinrich Thölken. Er ist gerade von einer Reise in das Tschadseegebiet zurück gekehrt, wo er sich ein Bild von der Lage verschafft hat.

Die humanitären Organisationen der Vereinten Nationen stehen vor einer Mammutaufgabe, erklärt Botschafter Thölken. „Allein in Nigeria strebt das Welternährungsprogramm an, 1,8 Millionen Menschen mit Nahrungsmittelhilfe und mit cash based transfer, also auch der Verteilung von Geld für den Kauf von Nahrungsmitteln zu erreichen. Das sind aber vermutlich immer noch nicht alle, die bedürftig sind.“

Menschengemachte Krisen

Besonders frustrierend: Auch hier handelt es sich um eine menschengemachte Krise, denn es sind die bewaffneten Konflikte in der Region, die zur Vertreibung der Menschen und zu brachliegenden Feldern führen. „Die Flüchtlinge bzw. Binnenflüchtlinge, die man in Maiduguri sieht, sind zum Teil nur wenige Kilometer von ihren Heimatorten entfernt, aber dennoch nicht zu Hause. Sie können in den Camps nur darauf warten, dass sich die Lage verbessert. Das ist aus vielerlei Gründen eine sehr ungünstige Situation; das hat auch viel damit zu tun, dass die Menschen weder Beschäftigung noch unmittelbare Perspektiven haben, und das führt eben auch zu allerlei negativen Erscheinungen.“

Eine Strategie der Vereinten Nationen und der Geberländer zielt darauf, verstärkt politischen Druck auf Regierungen aufzubauen, die in bewaffnete Konflikte verwickelt sind. Ein Paradebeispiel: Der Südsudan, in dem die Bevölkerung unter den Repressalien der Regierungstruppen leidet. Doch es ist nicht immer ohne weiteres möglich, die Konfliktparteien eindeutig zu identifizieren, gibt Botschafter Thölken zu bedenken.

Das Übel an der Wurzel anpacken heißt natürlich, den Konflikt zu beseitigen und für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Das ist bei einem Konflikt, wie er sich im Tschadseebecken zeigt, außerordentlich komplex. Man hat es nicht mit einem binnenstaatlichen Phänomen zu tun. Vielmehr gibt es da Aufständische, die sich in mehreren Ländern rund um den Tschadsee verteilt haben und dort für Unruhe sorgen. Es gibt eine gemeinsame Antwort der vier Staaten der Tschadseekommission, die eine multinationale Taskforce gebildet haben und die gewisse militärische Erfolge verbuchen konnten. Aber ich denke, letztlich wird man den Konflikt auch dort militärisch nicht lösen können; man muss Gespräche und Verhandlungen führen und die gravierenden Entwicklungsdefizite, die dort seit Jahren und Jahrzehnten bestehen, energisch angehen“

Langfristige und verlässliche Zusage von Geldmitteln ist nötig

Dazu, aber auch für die Notversorgung der hungernden Menschen braucht es viel Geld – Geld, das von den Geberländern kommen muss. Eine langfristige und sichere Mittelzusage der einzelnen Länder ist vital für die Arbeit von humanitären Organisationen, die wie das Welternährungsprogramm auf freiwillige Leistungen der Internationalen Gemeinschaft angewiesen sind, betont Botschafter Thölken. Deutschland hat seine Leistungen für das Welternährungsprogramm im Lauf der vergangenen Jahre beachtlich gesteigert, bis auf aktuell fast 900 Millionen US-Dollar – damit ist Deutschland der zweitgrößte bilaterale Geldgeber nach den USA. Dort hingegen werden gerade starke Kürzungen des Haushalts für die kommenden Jahre diskutiert, die katastrophale Auswirkungen nicht nur auf die soziale Situation der Bürger, sondern auch auf das humanitäre Engagement der Weltmacht zur Folge haben könnten. Keine Option für Deutschland, meint der Botschafter, der Deutschland bei den Organisationen FAO, WFP und IFAD in Rom vertritt:

„Es ist für uns ein Stück weit politischer Imperativ, humanitäre Hilfe in diesen leider immer häufiger auftretenden politischen Konfliktsituationen und Naturkatastrophen zu leisten. Das hat aber natürlich auch einen Reflex auf die innenpolitische Lage, wenn wir an die Flüchtlingskrise in Europa denken. Es ist für uns wichtig, Menschen vor Ort zu helfen, damit sie überhaupt nicht erst in die Lage versetzt werden, ihr Land verlassen und nach Europa aufbrechen zu müssen.“

Bedürftigen in ihrem eigenen Land helfen, bevor sie migrieren

Dreimal ziehen Flüchtlinge in ihrem eigenen Land um, bevor sie aus Verzweiflung die Reise nach Europa oder andere Länder wagen, besagen neueste Studien von Migrationsverhalten. Auch kühle Rechner sehen den Vorteil der Hilfe vor Ort. Denn nur rund 50 Cent kostet die Nothilfe-Ernährung eines Menschen in Krisengebieten pro Tag: nicht zu vergleichen mit den Kosten, die zu stemmen sind, sobald aus dem Binnenflüchtling ein Migrant wird. Werden die Gelder, die für Notmaßnahmen eingeplant sind, nicht bereitgestellt, hat das schwer wiegende Folgen für die Versorgung der Menschen vor Ort. Die zynische Entscheidung, vor der Helfer vor Ort stehen, heißt dann: gebe ich allen Bedürftigen weniger, oder gebe ich nur den allerbedürftigsten Menschen eine volle Tagesration an Essen? – bis die Töpfe unwiderruflich leer sind.

„Deswegen haben wir auch unlängst in Berlin am 12. April einen humanitären Appell lanciert und die Internationale Gemeinschaft aufgefordert, stärker und mit mehr Engagement für die Bekämpfung des Hungers und der schwierigen Situation der Flüchtlinge auch einzustehen. Es geht hier um verschiedene Ebenen. Einerseits müssen die Hilfsmaßnahmen natürlich voll finanziert werden, damit wirklich alle Menschen erreicht werden können, aber es geht auch darum, dass das Geld rechtzeitig zu Verfügung gestellt wird.“

Denn vorhersehbare Hindernisse wie beispielsweise der Eintritt der Regenzeit, der Straßen unpassierbar macht, könnten nur durch rechtzeitige Planung, oder „Pre-Positioning“ der Hilfsmaßnahmen ausgeräumt werden, erklärt Botschafter Thölken. Berlin Humanitarian Call heißt der Appell, den unter anderen die deutsche Regierung gemeinsam mit den Vereinten Nationen und internationalen Hilfsorganisationen verabschiedet hat – ein Appell, der hoffentlich auch in Übersee bis in die höchsten Regierungskreise dringt. 

(rv 02.06.2017 cs)








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