2017-04-24 08:11:00

Dem Papst geht es darum, dass die Armen ernstgenommen werden


Seit vier Jahren ist Franziskus nun Bischof von Rom, und immer noch fragen sich manche: Wo steht er eigentlich theologisch? Neigt er zur Befreiungstheologie, die lange von Rom misstrauisch beäugt wurde und jetzt teilweise rehabilitiert erscheint, oder ist er eigentlich ein Konservativer?

Weder noch, würde darauf wohl Rafael Luciani antworten. Der venezolanische Theologe lehrt am „Boston College“ in den USA und sieht im lateinamerikanischen Papst einen typischen Vertreter einer „Theologie des Volkes“.

„Die Theologie des Volkes ist ein Zweig der Befreiungstheologie, er wurde in Argentinien von den Theologen Lucio Gera und Rafael Tello entwickelt“, erklärt Luciani in einem Beitrag für Radio Vatikan. „Die argentinische Bischofskonferenz hat sich 1969 zu ihr bekannt. Ihre eigentliche Wurzel aber ist die Gründung der Coepal, der Bischofskommission für Pastoral, im Jahr 1966. Sie bezog den Begriff „Volk“ auf eine gemeinsame Kultur, verwurzelt in einer gemeinsamen Geschichte und ausgerichtet auf das Gemeinwohl.“

Tatsächlich hat Franziskus schon in seiner ersten, improvisierten Ansprache nach seiner Wahl zum Papst im März 2013 den Begriff „Volk“ aufgegriffen: „Und jetzt beginnen wir diesen Weg - Bischof und Volk“, sagte er von der Loggia des Petersdoms aus – nur um kurz danach dann um den „Segen des Volkes“ zu bitten, bevor er seinen Bischofssegen erteilte.

Für eine Reform der Mentalitäten

„Die Coepal hatte zum Ziel, den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils zu verinnerlichen, und suchte nach einer gemeinschaftlichen Form des Kircheseins. Außerdem wollte sie kollegiale Strukturen ... und eine wirklich befreiende Religion. Im Geist des konziliaren „aggiornamento“ verpflichteten sich die argentinischen Bischöfe, eine Reform der Mentalitäten und Normen herbeizuführen, die die Strukturen der Kirche bestimmen. Und sie wollten klareres Bewußtsein ihrer selbst, eine Reform, das Gespräch mit den christlichen Brüdern und die Öffnung zur Welt von heute – die vier Zielsetzungen des Konzils.“

In diese Konzils-Rezeption zeichnet Luciani nun den jetzigen Papst ein. Der Theologe Lucio Gera (1924-2012), bekannt für seine Schrift „Über das Geheimnis des Armen“, habe die Theologie des Volkes am konsequentesten ausgestaltet. „Für ihn ging es der Theologie des Volkes nicht um einen Wechsel der sozialen und politischen Strukturen um ihrer selbst willen, sondern darum, dass der Kirche ihre Mission und Identität klar wird – und zwar vom Blickwinkel der Option für das arme Volk aus. Von daher soll ihr Einsatz im soziopolitischen Bereich herrühren, und von daher kommt auch die Aufmerksamkeit für die Volkskultur und Volksfrömmigkeit – sie wird als der Ort gesehen, wo man den Armen und seine Lebenswelt am besten verstehen lernt. Option für die Armen bedeutet also auch Option für die Volkskultur – für ihre Erforschung, Erhaltung und Förderung.“

Evangelisierung von innen her

Der Theologe Gera hat, so führt Luciani aus, die Armen mit dem „Volk“ gleichgesetzt – schließlich seien sie „das kollektive Subjekt einer Geschichte, mit einem eigenen kulturellen Ethos“. Die „Theologie des Volkes“ ziele dementsprechend darauf ab, sich „in die Wertewelt der kleinen Leute einzufügen, um sie von innen her zu evangelisieren“. Evangelisierung also nicht von oben, sondern von innen her – und vor allem einhergehend mit der aktiven Förderung der Volkskultur und Volksfrömmigkeit. Nur wenn die Religion sich inkulturiere und „das freundliche Gesicht der Geschichte“ annehme, könne sie wirklich „befreiend“ sein.

Nach diesen Ausführungen kommt der Experte Luciani jetzt auf den Papst zu sprechen. „Schon seit den siebziger Jahren hat der künftige Papst Franziskus sehr klar gesehen, dass man die politiche Daseinsform des Christen nicht von der pastoralen Aktion der Kirche trennen kann. Bei seiner Ansprache zur Eröffnung der 14. Generalkongregation der Jesuiten 1974 führte er deshalb aus, dass die christliche Praxis – sowohl die religiöse als auch die soziopolitische – sich auf solidarische Geschwisterlichkeit, soziale Gerechtigkeit und das Gemeinwohl ausrichten muss. Und nicht auf Begriffe wie Vaterland, Revolution, konservativ oder liberal – Begriffe, die etwas Ausschließendes haben. Bergoglio unterstrich damals, dass in der Kirche die unfruchtbaren Auseinandersetzungen mit der Hierarchie und die Konflikte zwischen verschiedenen Flügeln – hier progressiv, dort reaktionär – nur dazu geführt hätten, dass die Teile wichtiger erschienen seien als das Ganze.“

Die Armen nicht als Objekte sehen

Luciani ist sich im klaren darüber, dass viele „gebildete oder konservative Kirchenleute oder Gruppen – vor allem in der Ersten Welt“ – Franziskus als theologisches Leichtgewicht sehen und abschätzig von einer „Copacabana-Theologie“ reden.

„Man gewöhnt sich daran, zu sagen, dass die Theologie des Volkes eine Option für die ignorante Masse wäre, für Menschen ohne Kultur oder kritisches Denken. Aber der Theologie des Volkes geht es um etwas anderes. Sie besteht darauf, dass man in den Armen nicht so sehr das bloße Objekt einer Befreiung zu sehen hat oder als Menschen, die erst noch erzogen werden müssten, sondern als Individuen, die dazu imstande sind, in ihren eigenen Kategorien zu denken, imstande, den Glauben legitim auf ihre eigene Art und Weise zu leben, imstande, von ihrer Volkskultur ausgehend Wege zu finden. Dass sie sich anders ausdrücken oder das Leben auf andere Weise sehen, bedeutet nicht, dass sie keine Kultur hätten – es ist lediglich eine andere Kultur!“

(rv 24.04.2017 sk)








All the contents on this site are copyrighted ©.