2017-04-14 16:00:00

Die Kreuzweg-Meditationen: Moderne Märtyrer im Zentrum


Die Not der Flüchtlingskinder, der Kriegsverletzten und der Menschen, die aufgrund von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit verfolgt werden, steht im Zentrum des diesjährigen Kreuzweges mit dem Papst am römischen Kolosseum. Franziskus hat zum ersten Mal in seinem Pontifikat eine Frau damit beauftragt, die Texte zu erstellen: Autorin der Meditationen mit dem Titel „Die Liebe Gottes erreicht im Kreuz ihr volles Maß“ ist die französische Theologin und Ratzinger-Preisträgerin Anne-Marie Pelletier. Eine Zusammenfassung.

Krieg, Flucht, Verfolgung

„Was heute zu Gott schreit aus den Elends- und Kriegsgebieten, in zerrissenen Familien, in den Gefängnissen, auf den überladenen Flüchtlingsschiffen“ – daran erinnert die Kreuzigung, schreibt Anne-Marie Pelletier über die Aktualität von Jesu Selbstopfer und seine Qual. Golgotha stehe zugleich für einen Neubeginn, erinnert die Französin: „Es ist eine Geburt, die sich dort vollzieht! Wir müssen den Mut haben zu sagen, dass die Freude des Evangeliums die Wahrheit dieses Momentes ist! Wenn unser Blick nicht zu dieser Wahrheit gelangt, dann werden wir weiter Gefangene in den Netzen des Leidens und des Todes sein. Und wir machen das Leiden Christi für uns zunichte.“

Der hier formulierte Auftrag der Christen zur Freude, zum Glauben an den „Sieg der Liebe“ ist nicht die einzige Stelle der Kreuzweg-Meditationen, die dem Stil des Papstes entspricht. Gottes Name ist „Barmherzigkeit“, schreibt Pelletier. Und in ihrer Rede von der „Liebe des Vaters“, die „bis zum Äußersten“ geht, scheint Franziskus‘ Bewegung vom „Gang an die menschlichen Peripherien“ gleichsam enthalten zu sein: „dorthin, wo wir keine Worte mehr haben; dorthin, wo wir orientierungslos sind; dorthin, wo das Übermaß der Gedanken Gottes über unsere Religiosität hinausgeht.“

Pelletier erinnert in ihren Meditationen an die anhaltende Not unzähliger Menschen auf der Welt. So erwähnt sie das Weinen der verängstigten Kinder auf der Flucht und in den Kriegsgebieten, der Verwundeten auf den Schlachtfeldern, die nach einer Mutter rufen, sowie das einsame Weinen der Kranken und der Sterbenden. Das Kolosseum, in dessen Inneren die Kreuzwegstationen eingerichtet sind, steht als Sinnbild für die Märtyrer des frühen Christentums, die wegen ihres Glaubens verfolgt und getötet wurden.

Hommage an Frauen

Dabei rückt die Theologin und Bibelwissenschaftlerin an mehreren Stellen Frauen in den Mittelpunkt. So etwa bei der siebten und der 14. Kreuzwegstation: „Jesus und die Töchter Jerusalems“ beziehungsweise „Jesus im Grab und die Frauen“. Es geht ihr um Frauen als Leidende, die zugleich Kraft und Trost spenden. Um Frauen, die unsichtbar Geschichte schreiben. Um Frauen, die trotz schwerer Prüfungen die Haltung des Lebens und der Hoffnung bewahren. „Nicht, dass die Tränen Sache der Frauen wären, als wäre es ihre Bestimmung, tatenlos und ohnmächtig zu weinen in einer Geschichte, die von den Männern allein geschrieben werden sollte. Tatsächlich sind ihre Tränen auch und vor allem jene Tränen, die sie in einer Welt, in der es viel zu weinen gibt, fern aller Blicke und Feierlichkeiten auffangen.“

Die erste Ratzinger-Preisträgerin lässt in diesem Zusammenhang die heilige Kirchenlehrerin Katharina von Siena (1347-1380) zu Wort kommen. Und sie zitiert aus dem Tagebuch der in Auschwitz ermordeten jüdischen niederländischen Lehrerin Etty Hillesum (1914-1943). „Im Inferno, das die Welt überzieht“, habe die Verfolgte noch gewagt, „zu Gott zu beten: ,Ich werde versuchen, dir zu helfen‘“ – „eine so weibliche und so göttliche Kühnheit!“ bringt Pelletier ihre Hommage auf den Punkt. 

Frage nach dem Sinn des Leidens

Noch ein zweites Opfer des Nationalsozialismus kommt in Pelletiers Kreuzweg-Meditation vor, an Station 10, „Jesus wird am Kreuz verhöhnt": der deutsche lutherische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906-1945). Pelletier stellt die Frage nach dem Sinn des Leidens, die das Evangelium den Frevlern in den Mund legt, und antwortet mit den Worten des Pastors: „Nur der leidende Gott kann helfen“, wie Bonhoeffer wenige Wochen vor seiner Ermordung niederschrieb. Auch einen Vertreter der orthodoxen Theologie lässt die Biblistin beim Kreuzweg vorkommen: Christos Yannaras, der die Lehre der griechischen Kirchenväter mit der Existenzphilosophie des Westens verbindet. 

Mit dem Trappisten Frère Jean-Pierre, dem einzigen Überlebenden des Massakers an den algerischen Tibherine-Mönchen, greift Pelletier beim Kreuzweg das Thema des Religionsdialoges auf. 1996 waren sieben Trappistenmönche aus dem algerischen Kloster Tibhirine vermutlich von islamistischen Extremisten entführt und später enthauptet worden. Der heute 92-jährige Frère Jean-Pierre arbeitete in Tibhirine im Gästetrakt des Klosters; daher war er nachts bei der Entführung nicht bei den anderen Mönchen. Im Juli 2016 war im Vatikan der Antrag auf Seligsprechung für die algerischen Märtyrer eingelangt. 

Menschsein heißt Fehlbarkeit

Wie die Autorin der diesjährigen Kreuzweg-Meditationen bereits im Vorfeld sagte, folgen ihre Betrachtungen nicht dem klassischen Schema. So verschiebt Pelletier im Vergleich zum klassischen 14-Stationen-Kreuzweg die Reihenfolge und ersetzt einige der bekannten Stationen durch andere, biblische Szenen. So kommt etwa die Begegnung Jesu mit Pilatus (Station 3) vor, die Verhöhnung Jesu am Kreuz (Station 10) und die dreimalige Verleugnung durch Petrus (Station 2). 

Mit der ausführlichen Behandlung des Pilatus will die Bibelwissenschaftlerin laut eigenen Angaben daran erinnern, dass bei Jesu Verurteilung Juden und Heiden in Komplizenschaft vereint gewesen seien. Anhand des Petrus hingegen kann Pelletier den engen Zusammenhang zwischen menschlicher Fehlbarkeit und der Fährigkeit zur Bekehrung verdeutlichen: Petrus leugnete, denn „er gehört zu uns Menschen“, doch er erkennt und bereut. Die „Schule des Petrus“, der trotz Fehlbarkeit mit der Aufgabe betraut wurde, die Kirche aufzubauen, besteht nach Pelletier also gerade darin, dass Gläubige „die Abgründe der Furcht und des Unglaubens überqueren können“ -  um letztlich den Mut zur Wahrheit zu finden und zum wahren christlichen Zeugnis zu gelangen. 

(rv 14.04.2017 pr)








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