2017-03-24 18:00:00

Franziskus: Europa ist eine Lebenshaltung - brüderlich und gerecht


Die europäische Staatengemeinschaft ist kein Handbuch von zu befolgenden Protokollen, sondern sie verkörpert eine „Lebenshaltung nach menschlichem Maß, brüderlich und gerecht“: Daran hat Papst Franziskus die 27 europäischen Staats- und Regierungschefs erinnert, die er an diesem Freitagabend in einer feierlichen Zeremonie im Apostolischen Palast im Vatikan empfing. Anlass der Europa-Grundsatzrede des Papstes war der Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren, am 25. März 1957 – der Tag gilt als Geburtsdatum der Europäischen Union.

Die Spitzenpolitiker der EU scharten sich um den lateinamerikanischen Papst. Aus allen EU-Hauptstädten mit Ausnahme Londons, das sich auf seinen EU-Austritt vorbereitet, waren die Staats- und Regierungschef der Union angereist und hörten Franziskus zu. Im der prachtvollen Königssaal im Apostolischen Palast hielt der Papst seine vierte große Europa-Rede. Von Anfang an war es das Anliegen der Gründerväter, in Europa nicht bloß Wohlstand und Fortschritt zu schaffen, sondern es ging „um eine Lebenshaltung nach menschlichem Maß, brüderlich und gerecht“, zitierte der Papst den damaligen belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak aus dessen Rede zur Unterzeichnung der Römischen Verträge.

Das neue Europa, das sich nach den blutigen Jahren des Kriegs zu einer besseren Zukunft aufmachte, war von seinen Gründervätern nicht gedacht als „eine Summe von einzuhalten Regeln“, betonte der Papst. Vielmehr liegt Europa ein besonderes Menschenbild zugrunde, sagte Franziskus durchaus anerkennend: Europa, das sei „ein Leben; eine Art, den Menschen ausgehend von seiner transzendenten und unveräußerlichen Würde zu begreifen und nicht nur als eine Gesamtheit von zu verteidigenden Rechten oder einzufordernden Ansprüchen“. Von Anfang an, sagte der Papst, „war klar, dass das pulsierende Herz des politischen Projekts Europa nur der Mensch sein konnte.“

Unter ausgiebigem Zitieren der Gründerväter, darunter Konrad Adenauer, legte Franziskus die europäischen Kerngedanken frei, auf denen der Zusammenschluss der Nationen damals aufbaute – und die heute noch Gültigkeit haben müssen, wie der Papst hinzufügte. Beispiel: Solidarität und „die Fähigkeit, sich für die anderen zu öffnen“. Die Gründungsväter wollten ein „geeintes und offenes Europa“, das heutige Bild präsentiere sich anders, so Franziskus unter Verweis auf die zwiespältigen Debatten über Flucht und Migration, die Europa auf eine schwere Probe stellen.

„Dort, wo Generationen sich sehnlichst wünschten, die Symbole einer aufgezwungenen Feindschaft fallen zu sehen, diskutiert man heute, wie man die jetzigen ,Gefahren´ fernhalten kann: angefangen von dem langen Treck von Frauen, Männern und Kindern, die auf der Flucht vor Krieg und Armut sind und nur um die Möglichkeit einer Zukunft für sich und die ihnen nahestehenden Personen bitten.“

Dabei ist Europa ein außerordentlich erfolgreiches Friedensprojekt, erinnerte der Papst. Freilich habe sich die Welt in diesen 60 Jahren sehr verändert. In Europa herrsche heute, anders als damals, nicht Hoffnung, sondern die Wahrnehmung von Krise: Wirtschaftskrise, Krise der Familie, Krise der Institutionen, Flüchtlingskrise. Das biete aber auch Chancen, betonte Franziskus: „Unsere Zeit ist eine Zeit der Entscheidung, die dazu einlädt, das Wesentliche zu prüfen und darauf aufzubauen“.

Genau die Pfeiler, auf denen die Gründungsväter damals die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft errichten wollten, seien dazu in der Lage, Europa heute wieder aus der Krise führen, sagte der Papst und nannte: „die Zentralität des Menschen, eine tatkräftige Solidarität, die Offenheit für die Welt, das Verfolgen des Friedens und der Entwicklung, die Offenheit für die Zukunft“.

Wie findet Europa wieder Hoffnung? Ein Fahrplan in fünf Punkten

Wie Europa wieder Hoffnung finden kann, dazu legte der Papst in seiner Rede an die EU-Staaten fünf Punkte vor.

Zunächst: Der Mensch müsse „die Mitte und der Herz“ der europäischen Institutionen sein. Da sei verlorener „Familiengeist“ wiederzufinden, regte der Papst an. Europa sei „eine Familie von Völkern“, und da gebe es wie in jeder Familie „unterschiedliche Sensibilitäten“. Franziskus hielt ein Plädoyer für Einheit in der Verschiedenheit. Nicht alle müssten gleich sein, der zentrale Punkt sei „Harmonie“. „Heute muss die Europäische Union wieder den Sinn dafür entdecken, ,Gemeinschaft´ von Menschen und Völkern zu sein, die sich bewusst ist, dass ,das Ganze mehr [ist] als der Teil, und es [...] auch mehr [ist] als ihre einfache Summe´“, und dass sich der Blick weiten müsse, „um ein größeres Gut zu erkennen, das uns allen Nutzen bringt“, zitierte der Papst aus seiner Ansprache an das Europaparlament in Straßburg sowie aus seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium.

Zweitens finde Europa wieder Hoffnung in der tätlichen Solidarität, „die auch das wirksamste Heilmittel gegen die modernen Formen des Populismus” sei. Der Politik schrieb der Papst eine „Führungsrolle der Ideen“ zu: Sie muss „vermeiden, Emotionen auszunutzen, um Zustimmung zu gewinnen, sondern vielmehr im Geist der Solidarität politische Handlungsweisen erarbeiten, welche die Union in einer harmonischen Entwicklung wachsen lassen“. Hier müssten dann die „Schnelleren“ den „Langsameren“ die Hand reichen, „und wer Mühe hat, sei bestrebt, den an der Spitze zu erreichen“.

Drittens solle Europa sich nicht „in die Angst falscher Sicherheiten“ einschließen, riet der Papst. Stichwort Flüchtlingskrise: Die dürfe man nicht allein als wirtschaftliches oder Sicherheitsproblem angehen, sondern als kulturelle Herausforderung begreifen. Der Wohlstand habe offenbar Europa heute „die Flügel gestutzt“, dabei sei der Reichtum des Kontinents „immer seine geistige Offenheit gewesen“, betonte Franziskus. „Europa hat ein ideelles und geistiges Erbe, das einzigartig ist auf der Welt. Dieses ist es wert, mit Leidenschaft und neuer Frische wieder aufgegriffen zu werden. Es stellt das beste Heilmittel gegen das Vakuum an Werten unserer Zeit dar, jenen fruchtbaren Boden für Extremismen aller Art.“

Viertens finde Europa wieder Hoffnung, „wenn es in die Entwicklung und den Frieden investiert“. Franziskus nannte als Hindernisse zum sozialen Frieden ein Leben im Elend, ohne Arbeit oder Aussicht auf menschenwürdigen Lohn. Es gebe auch „keinen Frieden in den Peripherien unserer Städte, in denen Drogen und Gewalt grassieren“.

Fünftens gebe es Europa wieder Hoffnung, wenn es auf die Jugend setzt. Europa müsse seinen jungen Menschen Bildung garantieren und ihnen ermöglichen, Familien zu gründen und Kinder zu bekommen, „ohne Angst haben zu müssen, nicht für ihren Unterhalt sorgen zu können“.

60 Jahre, das sei heutzutage mit der langen Lebenserwartung „die Zeit der vollen Reife“, sagte der Papst in Anspielung auf seine Rede vor dem EU-Parlament in Straßburg, bei der er den Kontinent als „Großmutter“, bezeichnet hatte, die „nicht mehr fruchtbar und lebendig“ sei. Diesmal bemühte sich der Papst darum, das Bild ins Positive zu wenden: „Im Unterschied zu einem sechzigjährigen Menschen hat die Europäische Union nicht ein unausweichliches Altwerden vor sich, sondern die Möglichkeit einer neuen Jugend. Ihr Erfolg wird vom Willen abhängen, weiter zusammenzuarbeiten, und von der Lust, auf die Zukunft zu setzen.“ Und der Papst widerholte seine Bitte an die Verantwortungsträger Europas, wie er sie bei seiner Karlspreisrede geäußert hatte: Es gelte, einen „neuen europäischen Humanismus“ zu finden, der aus Idealen und konkreter Umsetzung besteht.

Wer alles da war

Neben den Staats- und Regierungschefs von 27 europäischen Staaten, darunter die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, waren auch die Granden der Europäischen Union als solcher gekommen: Antonio Tajani, der neue Präsident des Europaparlaments, Donald Tusk, soeben im Amt bestätigter Präsident des Europäischen Rates, und Jean-Claude Juncker, Präsident der europäischen Kommission. Als kirchlicher Europa-Vertreter war der Münchner Kardinal Reinhard Marx zugegen, Präsident des Europäischen Bischofsrates ComECE. Im Anschluss an die Papstaudienz wechselten die Staats- und Regierungschefs in die angrenzende Sixtinische Kapelle zum „Familienfoto" mit Papst Franziskus in der Mitte.

Die Staaten, die vor 60 Jahren im Senatorenpalast auf dem römischen Kapitol die Römischen Verträge unterzeichneten, waren die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Italien sowie die Benelux-Staaten, also Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Der Kreis hat sich inzwischen auf 28 minus eins erweitert: Großbritannien tritt aus.

Für Papst Franziskus war es die vierte große Europarede in den vier Jahren seines Pontifikats. Alle vier Ansprachen finden Sie gesammelt zum Nachlesen hier.

(rv 24.03.2017 gs)








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