2017-01-30 14:14:00

Ägypten: Ein großes Land am Abgrund


Armut, Terror, autoritäre Führung: Ägypten steckt in einer tiefen Krise. In dem Land am Nil mit seinen 93 Millionen Menschen kämpfen viele Tag für Tag ums Überleben. Sechs Jahre ist es her, dass der Arabische Frühling den Autokraten Hosni Mubarak verdrängte. Abertausende Ägypter zogen damals auf dem Tahrir-Platz in Kairo auf, forderten Demokratie, hofften auf einen Aufschwung, auf ein besseres Leben - und brachten den Umsturz. Heute, im zweiten Jahr der Präsidentschaft Fatah al-Sisis, sind die meisten Ägypter enttäuscht. Das erzählte uns ein Rom-Besucher aus Kairo, Pfarrer Joachim Schroedel. Die immerhin zehn Prozent orthodoxen Christen müssten in dieser Lage die „Option für die Armen“ deutlicher aussprechen, meint der deutsche Auslandsseelsorger. Denn die größten Dramen im Alltag erlebten die Ägypter heute in wirtschaftlicher Hinsicht.

Schroedel: „Man muss leider sagen, dass die wirtschaftliche Situation für den normalen und einfachen Ägypter noch einmal dramatischer geworden ist. Die Löhne steigen nicht, aber dafür steigen die Preise sehr schnell und sehr stark. Zum Teil sind die Preise höher als hier in Europa, für ganz normale Produkte wie etwa Milch. Es gibt keinen Zucker. Auch Öl ist teurer als in Europa. Die Menschen suchen nach Auswegen. Sie sind immer noch gehorsam gegenüber dem Staat, aber ich spüre manchmal doch auch ein wenig – Aufruhr ist zu viel gesagt – aber so ein Grummeln, wo man sagen muss: ,Jetzt müsste der Staat mal wirklich etwas Gutes tun für die Armen.' Und das sind immerhin 60 Prozent der Ägypter, bei 93 Millionen Einwohnern.“

RV: 2016 kam es in Ägypten zu hunderten Streiks und Demonstrationen gegen die soziale Not. Wie reagiert das Sisi-Regime?

Schroedel: „Natürlich ist der Staat präsent durch das Militär und die Polizei. Der Staat sagt sehr deutlich: „Wir müssen eines bekämpfen, nämlich die Muslim-Brüder und alles, was gegen den Fortschritt des Staates geht.“ Unter diesem Signet läuft natürlich dann auch die Tatsache, dass die Meinungsfreiheit sehr stark eingeschränkt ist. Der Journalismus hat zu leiden in Ägypten. Ich kenne eine Reihe deutscher Journalisten, die kaum mehr wagen, etwas klarer oder kritischer zu rapportieren. Da wird es dann schwierig. Und ich glaube, auch da muss der Staat sehen, die Zügel ein wenig loser zu lassen, damit auch eine Kritik möglich sein müsste und man auch Anfragen stellen darf, die ja nicht gleich für die Zerstörung eines Staates sein sollen, sondern im Gegenteil, zum Aufbau eines Staates.“

RV: In Ägypten boomt zugleich der Bau von Gefängnissen. Seit Sisis Amtsantritt wurden 17 neue Haftanstalten gebaut. Und ein gigantomanisches Bauprojekt gibt es ebenfalls. Am Stadtrand von Kairo, das jetzt schon die größte Metropole Afrikas und Arabiens ist, entsteht eine neue Hauptstadt Ägyptens. Was hat es damit auf sich?

Schroedel: „Das ist natürlich ein Prestigeobjekt. In Ägypten und vielleicht auch in anderen orientalischen Ländern setzt man auf das Äußere. Mitten in der Wüste entsteht in der Tat eine neue Stadt. Eine große Umfassungsmauer ist schon fast errichtet. Die Infrastruktur wächst von Tag zu Tag. Zehntausende von Arbeitern sind dort, um eine neue Hauptstadt zu errichten. Das soll zunächst einmal heißen, dass die politischen Institutionen des Staates dort oben angesiedelt werden. Nicht zuletzt auch die Botschaften. Unser Problem ist nur, dass im Gegenzug nichts getan wird für die Siedlungen, wo 20 Millionen Menschen rings um Kairo wohnen, die Armen, etwa die Müllmenschen, für die gerade unsere katholische Gemeinde intensiv arbeitet. Für sie sehen wir überhaupt keine Zukunft. Die Arbeitslosigkeit steigt, und wir wursteln uns sozusagen durch. Und die Menschen, die dort leben, sagen uns: ,Was sollen wir mit einer neuen Hauptstadt, die wir ja eh nie sehen werden? Denn es ist viel zu teuer dort hinzufahren, und außerdem sind wir dann frustriert.' Wir müssen hier vor Ort bessere Strukturen schaffen und bessere Schulen haben.“

RV: Die berühmte französische Ordensfrau Sour Emmanuelle hat jahrzehntelang mit und bei den Müllmenschen von Kairo gelebt, überhaupt engagieren sich viele Christen für diese Ärmsten der ägyptischen Armen. Wenn Sie diese Slums besuchen, was sehen Sie da?

Schroedel: „Wir selber haben uns in Kairo bereits seit 35 Jahren, also lange vor meiner Zeit, in einer Müllsiedlung engagiert. Das ist inzwischen eine relativ berühmte kleine Siedlung geworden, Moytamadeia, von Schwester Maria Grabis vor etwa 35 Jahren gegründet worden. Dort sehen wir, Dank auch des finanziellen Engagements der Bundesrepublik Deutschland, nicht durch den Staat, aber durch die Menschen, die dort leben und andere Kleininstitutionen, dass wir etwas erreichen können, dass wir Fortschritt tatsächlich sehen. Aber andererseits: Es ist wie ein Fass ohne Boden, dass man natürlich den vielen Menschen nicht allen gleich helfen kann. Derzeit ist es wieder – durch die wirtschaftliche Situation – kaum möglich, an Medikamente zu kommen. Ich versuche aus Deutschland Medikamente mitzubringen oder jetzt aus Rom, damit man den Menschen helfen kann. Denn die lebensbedrohliche Situation, so kann man es wirklich sagen, ist manchmal direkt mit Händen zu greifen.“

 

„Orthodoxe Christen müssten die Option für die Armen lauter aussprechen"

RV: In Ägypten leben rund zehn Prozent Christen, die meisten von ihnen sind orthodox, die katholischen zählen nur wenige Tausend. Das Zusammenleben mit der muslimischen Bevölkerungsmehrheit und auch mit der autoritären Führung ist nicht immer einfach. Wie stellt sich das derzeit dar?

Schroedel: „Staat und orthodoxe Kirche, also die Kopten, tun schon viel verbal, um eine Einigkeit zu zeigen. Zum Beispiel Präsident Sisi, der jetzt zum dritten Mal die Weihnachtsmesse der orientalischen Kopten besucht hat, legt sehr viel Wert darauf. Er sagt: ,Wir sind Ägypter! Wir lassen uns nicht unterscheiden in Christen und Muslime.' Mir scheint es dennoch so, dass die Christen der Orthodoxie, mit ihren immerhin etwas zehn, zwölf Millionen Menschen, vielleicht prononcierter die Option für die Armen ausdrücken müssten. Also wirklich sagen müssten: ,Wir sind noch nicht fertig! Wir sind erst ganz, ganz am Anfang.' Und gerade diese sozialen Missstände, die bestehen, sollten meiner Ansicht nach auch angesprochen werden. In einer freundlichen, netten Weise, aber doch auch sehr klar. Denn die Situation ist eben nicht erfreulich. Und Christen sind nicht nur Leute, die schöne Liturgie feiern, sondern die sich auch einsetzen müssen für die Ärmsten, wie es unser Heiliger Vater hier in Rom auch immer wieder betont.“

RV: Kurz vor unserem Weihnachtsfest hier kam es in Kairo zu einem schrecklichen Anschlag auf die koptische Kathedrale. Wie sehr hat das die koptischen Gemeinden in ganz Ägypten getroffen und wie ist da im Moment der Stand der Selbstbefindlichkeit?

Schroedel: „Das war in der Tat ein Schlag. Man kann sich das nicht anders vorstellen, als wenn hier in einer Kapelle, etwa in der Sixtina in Rom, ein Selbstmordattentäter zig Menschen umbringt. Es war wirklich dramatisch, und ich denke, der ägyptische Christ leide auch heute noch darunter und sagt: ,Jetzt waren wir ins Herz getroffen.' Patriarch Tawadros II. und natürlich auch der Präsident al-Sisi haben natürlich in gemeinsamen Worten immer wieder gesagt: ,Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das darf nicht sein.' Al-Sisi hat versprochen am Tag des Attentates, diese Kirche wieder so herzustellen, wie sie war, und das hat er geschafft. Bereits am 1. Januar war diese Kirche wieder total renoviert. Aber die Menschenleben sind natürlich nicht wieder herzubringen. Und das ist etwas, wo man wirklich sagen muss: ,Nie wieder!' Aber es wird natürlich auch – das muss man ehrlicher Weise sagen – immer wieder dazu kommen, dass wir unter Attentaten leiden müssen. Das da keine 100-prozentige Sicherheit gewährleistet werden kann. Wir sehen das ja auch in Europa in verschiedenen Städten, unlängst ja auch vor Weihnachten in Berlin. Dinge, die sich nicht abwenden lassen. Aber die Christen haben trotzdem in ihrem Selbstverständnis eine sehr mutige Haltung. Die sagen dann: ,Wir werden aber nicht klein beigeben, gerade dem Terror werden wir nicht klein beigeben.' Die Weihnachtsgottesdienste sind alle sehr schön verlaufen. Es ist nichts passiert, und die Menschen sind in großen Scharen hin. Vielleicht waren es mehr als sonst in den Jahren, um zu zeigen: Wir sind Christen. Wir sind die Kirche des Kreuzes, wie sie sich selbst nennen, und wir zeigen uns.“

(rv 30.01.2017 gs)








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