2016-12-28 08:00:00

Jahresbilanz 2016: Flüchtlingskrise - Menschen wollen zurück


2016 aus Sicht der Flüchtlingskrise – ein Jahr mit viel Schatten und wenig Weitblick. Dieses Fazit zieht Christopher Hein vom Italienischen Flüchtlingsdienst (CIR) im Gespräch mit Radio Vatikan. Der ehemalige UNHCR-Mitarbeiter und internationale Rechtsexperte im Bereich Migration und Asylpolitik ist seit 2011 Berater des Päpstlichen Migrantenrates. Wir haben ihn darum gebeten, einige Ereignisse des Jahres mit Blick auf die Flüchtlingskrise zu kommentieren.

Syrien und kein Ende: Der seit 2011 dauernde Krieg hat mehr als 250.000 Menschenleben gefordert und die Hälfte des 24 Millionen-Volkes in die Flucht geschlagen. Auch die Gewalt im Irak, in Afghanistan und in verschiedenen afrikanischen Staaten zwingt tausende von Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen.  

Der Internationalen Gemeinschaft sei es angesichts der Fortsetzung dieser großen Konflikte, so Hein, „nicht gelungen, irgendwo große Krisenherde auch nur einzudämmen geschweige denn zu bekämpfen oder Sicherheitsbedingungen zu schaffen, die tatsächlich eine Rückkehr unter nebschenwürdigen Bedingungen und Sicherheitsbedingungen von Flüchtlingen ermöglicht hätte."

Ab 2015 habe es eine zweite große Flüchtlingsbewegung aus den Anrainerländern der Kriegsregionen Richtung Europa gegeben, fährt er fort. Dies hätte man verhindern können, so der Experte, der sich mehr Weitblick bei der Konfontation der Flüchtlingskrise wünscht. „​Das wurde in diesem Jahr immer deutlicher, eine Verantwortung, ja eine Nachlässigkeit auch der Internationalen Gemeinschaft einschließlich der Eruopäischen Union, dass sie nicht zeitig, also 2012, 2013 erkannt haben, dass man massiv in den Erstaufnahmeländern investieren müsste, sowohl mit finanziellen, aber auch strukturellen Mitteln: Dass die Flüchtlinge da Arbeitserlaubnis haben und tatsächlich auch arbeiten können, dass Kinder dort zur Schule gehen können, dass es eine Gesundheitsversorgung gibt."

Viele der Flüchtlinge wollten nämlich in ihrer Heimat bleiben oder in diese zurückkehren, so der Dirketor des Italienischen Flüchtlingsdienstes: „Wir wissen das aus hunderten Gesprächen, die Menschen wollen nicht unbedingt nach Westeuropa kommen, wenn es Bedingungen gäbe in den Nachbarländern, in Libanon, Jordanien, Türkei und Irak, um das abzuwarten und dann irgendwann zurückzukehren." 

März 2016: Die Europäische Union schließt ein Flüchtlings-Abkommen mit der Türkei. Der Deal stellt in der EU-Flüchtlingspolitik neue Weichen, aus Sicht der deutschen Bundesregierung ist er ein Erfolg.

In der Tat habe das Abkommen dazu beigetragen, dass „die Zahl derer, die über die Türkei auf die griechischen Inseln und von da weiter über die Balkanroute nach Westeuropa gekommen sind, drastisch runtergegangen ist“, bestätigt Hein im Gespräch mit Radio Vatikan. Das Abkommen an sich aber sei ein „Kuhhandel auf Kosten der Flüchtlinge“, kritisiert der Direktor des Italienischen Flüchtlingsdienstes. Das Problem werde einfach vor die Grenzen der EU „exportiert“, so Hein, der daran zweifelt, dass die Kriegsflüchtlinge in der Türkei den Schutz und die Aufnahme finden, die ihnen laut internationalem Recht zusteht. 

„Natürlich muss man mit Drittstaaten, also den Nicht-EU-Ländern zusammenarbeiten, aber in welcher Weise?“, fragt der Direktor des Internationalen Flüchtlingsdienstes. 

Angesichts der Flüchtlingskrise spricht Europa über verschärfte Grenzkontrollen nicht nur innerhalb der Staatengemeinschaft. Durch Abkommen mit Staaten außerhalb der EU will man den Flüchtlingsstrom da unterbrechen, wo er hauptsächlich beginnt: in Afrika. „Fluchtursachenbekämpfung“ wird das genannt, der Begriff ist das Stichwort der europäischen Entwicklungspolitik im Jahr 2016. 

Dass die EU jetzt auch auf Fluchtursachenbekämpfung in afrikanischen Ländern setzt, sei löblich, kommentiert Hein. Allerdings könne man die Entwicklung dieser Staaten nicht angehen, ohne demokratische Strukturen dort zu fördern und auch einzufordern, so der Experte mit einem Seitenhieb auf Bestrebungen etwa der deutschen Bundesregierung: „Heißt das, den Diktaturen in Afrika noch mehr Geld zu geben, damit die ihnen repressiven Apparate noch besser ausbauen können wie in Eritrea oder im Sudan? Ist das die Zusammenarbeit mit Drittstaaten? Oder heißt es, zum Beispiel wie in einem Land in Libyen oder auch in Niger oder Mali, jetzt nicht nur wirtschaftliche und Entwicklungshilfeprojekte in Gang zu setzen, sondern darauf zu dringen und daran mitzuarbeiten, dass da Rechte respektiert werden in diesen Ländern – das ist die Grundlage, auch die Grundlage für eine wirtschaftliche Entwicklung!“

Im März 2016 nimmt im libyschen Tripolis eine neue Einheitsregierung, international abgesegnet und bejubelt, ihre Arbeit auf. Sie soll den Machtkampf im Krisenland mit politischen Mitteln lösen, den Staat wieder handlungsfähig machen und, so hofft Europa, helfen, den Flüchtlingsstrom mit einzudämmen.

Hatte sie Erfolg? Hein zieht eine negative Bilanz: „Was ist passiert in all den Monaten? Praktisch nichts! Diese neue Regierung hat nicht wirklich Fuß fassen können und zu einer Einigung der verschiedenen Strömungen, Milizien usw. in Libyen beitragen können. Und schon gar nicht einen Beginn machen können, ein Rechtssystem in Libyen aufzubauen…“ Ein Rechtssystem, das auch Migranten und Flüchtlinge schützen würde, die im Transitland Libyen festsitzen und in der Flucht übers Mittelmeer den letzten Ausweg sehen. 900 von ihnen kamen im April 2015 bei einem Schiffbruch vor der libyschen Küste ums Leben. Es war eine der schwersten Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer, der verantwortliche Schlepper wurde in diesem Dezember, das Urteil erging vor wenigen Tagen, zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Massengrab Mittelmeer, im letzten wie in diesem Jahr. Die Bemühungen, dem Problem durch mehr Polizeipräsenz und Grenzschutz beizukommen, scheinen gescheitert. Hein gibt gegenüber Radio Vatikan erschreckende Zahlen über die Todesopfer an: „Im Jahr 2015 gab es schon eine Höchstzahl der Opfer im Mittelmeer. 2016 gab es noch mal eine Erhöhung, 1000 mehr als im Vorjahr. Von denen, von denen wir wissen, und wir wissen nicht von allen, sind es mindestens 4.750 Menschen, die umgekommen sind, ertrunken, erstickt, unter schrecklichsten Bedingungen umgekommen sind auf der Überfahrt von Nordafrika oder von der Türkei Richtung Europa, in erster Linie im zentralen Bereich des Mittelmeers, das heißt vor allem von Libyen Richtung Süditalien, Sizilien.“

Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR) sprechen derweil von noch höheren Zahlen: In 2016 seien so viele Migranten im Mittelmeer ertrunken wie nie zuvor, etwa 5.000 Menschen seien bei der Überfahrt umgekommen, so die Organisationen. 

April 2016: Papst Franziskus nimmt bei seiner Reise auf der griechischen Insel Lesbos syrische Flüchtlingsfamilien zurück mit nach Rom. Bereits im September 2015 hatte er dazu aufgerufen, in jeder Kirchengemeinde Flüchtlinge aufzunehmen.

„Absolut wirksam und mutig“ sei das gewesen, kommentiert Hein, und er prophezeit: „Über einen längeren Zeitraum werden solche Gesten eine außerordentliche Bedeutung haben und auch dazu führen, dass die Öffnung erst einmal im Herzen und Hirn der Menschen stattfindet und dann hoffentlich in den Politiken, die beschlossen werden.“

November 2016: Die kolumbianische Regierung und die Guerrilla-Gruppe Farc einigen sich auf einen neuen Friedensvertrag. Eine Tür für Versöhnung in Kolumbien ist aufgestoßen.

Auch für eine Heimkehr der Vertriebenen, unterstreicht Hein: „dass über den Waffenstillstand, der ausgehandelt wurde zwischen der Regierung und der Guerillia, es auch Möglichkeiten gibt, dass Flüchtlinge zurückkehren können in großer Zahl oder dass interne Flüchtlinge in Kolumbien, und das sind über drei Millionen, in ihre Heimatdörfer zurückgehen können.“ Den Pakt wertet Hein als eines der wenigen positiven Ereignisse des Jahres für Flüchtlinge weltweit.

Dezember 2016: Der EU-Gipfel in Brüssel streitet wieder einmal über die Asylfrage. Eine Alternative für das umstrittene Dublin-Verfahren findet der Gipfel nicht. Aus Deutschland werden zugleich in diesen Wochen immer mehr Menschen abgeschoben, etwa zurück nach Afghanistan.

Dass Flüchtlinge in Europa nur in dem Land Asyl beantragen dürfen, in das sie zuerst ihren Fuß setzen, hat mit einer solidarischen Staatengemeinschaft wenig zu tun, findet Hein: „Also die Antwort ist sicherlich auf einen längeren Zeitpunkt hin, ein europäisches Asylverfahren zu schaffen wie es heute ein deutsches Asylverfahren gibt. Da ist es egal, ob ich meinen Antrag in München oder Hamburg vorlege. Und das sollte auch der Fall von Europa sein in Zukunft, dann würde sich die ganz Frage von Dublin sowieso erledigen.“ In diese Richtung geht auch die Forderung des Flüchtlingswerkes der Vereinten Nationen UNHCR an die Staatengemeinschaft: Europa müsse angesichts der globalen Flüchtlingskrise „eine neue Vision“ in Punkto Asylpolitik entwickeln, sagte UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi.

Dafür müssten aber freilich alle Länder an einem Strang ziehen. Dass gerade osteuropäische Staaten wie Polen, Ungarn und Tschechien sich gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen wehren, obwohl aus diesen Ländern vor gar nicht langer Zeit selbst viele Migranten nach Westen strömten, findet Hein ziemlich dreist. Als UNHCR-Beamter hatte er selbst in den 80er Jahren in Italien vor allem mit Flüchtlingen aus diesen Ländern zu tun: „Das war damals ein Großteil der Asylbewerber wie heute die Iraker und Syrer, und gerade das sind heute die Länder, die sagen: ,Wir wollen keine Flüchtlinge‘. Das ist moralisch gesehen absolut unakzeptabel und das muss man diesen Ländern auch sagen auch in der öffentlichen Meinung und Presse auch sagen: was ihr macht, ist eine völlige Ungerechtigkeit.“

(rv 27.12.2016 pr)








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