Für eine neue Synthese aus Religion, Vernunft und Gefühl angesichts eines europäischen
„Epochenwandels" hat sich der Erzbischof von München, Kardinal Reinhard Marx, bei
einem Vortrag in Salzburg ausgesprochen. Die gegenwärtige europäische Krisensituation
stelle Gesellschaft, Politik sowie die Kirchen vor die große Herausforderung, nach
neuen Begründungsmustern für eine „Zivilisation der verantwortungsvollen Freiheit"
zu suchen. Dieses seit dem Ende des Kommunismus etablierte europäische Selbstverständnis
habe "keine Bestandsgarantie" und fordere heute eine Weiterentwicklung - mutig nach
vorne blickend, ohne restaurative Tendenzen, so Marx. Dazu könne auch der christliche
Glaube und seine eng mit der europäischen Freiheitsgeschichte verwobene Tradition
einen wichtigen Beitrag leisten.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz referierte in Salzburg als Festredner
zum Abschluss der „Salzburger Hochschulwochen", die in diesem Jahr unter dem Generalthema
„Leidenschaften" standen.
Im Kern der gegenwärtigen Krisensituation, die man bis in Konflikte auf familiären
Ebenen hinein nachverfolgen könne, lasse sich laut Marx ein Missverhältnis von Glauben,
Vernunft und Gefühl ausmachen. So sei das von dem Politologen Francis Fukuyama Anfang
der 1990er-Jahre ausgerufene „Ende der Geschichte" letztlich in ein Ende der großen
Erzählungen gemündet, die Europa über Jahrhunderte geprägt und zivilisiert hätten
- dazu zählten auch jene großen biblischen Erzählungen, die, wie die Gleichnisse oder
die Bergpredigt, selbst religiös unmusikalischen Menschen etwas sagen, so der Münchener
Erzbischof. Heute würden indes „große Erzählungen" wiederkehren - allerdings in Form
von Nationalismus, nationalen Interessen und Identitäten und Abgrenzungen von anderen:
„Werden wir es in dieser Situation als Kirche schaffen, eine neue kulturelle Synthese
voranzutreiben? Oder erstarren auch wir in der Sorge um Identität?"
Die Forderung nach einer neuen Synthese von Glaube, Vernunft und Gefühl gelte jedoch
auch im innerkirchlichen Raum, so Marx weiter, stehe doch die Kirche in der Gefahr,
das Gefühl gegenüber dem Verstand überzubetonen. Glaube könne hingegen als Teil einer
„Aufklärung über die Aufklärung" verstanden werden, dies müsse man gerade in einem
„religiös aufgeheizten Umfeld" immer wieder betonen. „Wer das Evangelium hört, die
Botschaft Jesu meditiert, der kann kein Fundamentalist werden", so die Überzeugung
des Kardinals. Daher dürfe der Glaube auch "niemals auf die intellektuelle Kraft der
Theologie verzichten", die die Glaubensquellen erschließt und erklärt.
Ein konkreter Beitrag der Kirche zu einer weiterzuentwickelnden „Zivilisation verantwortungsvoller
Freiheit" könne laut Marx etwa in einer mutigen Fortentwicklung der Pädagogik auch
durch die Kirchen bestehen. Zwar pflege man kirchlicherseits ein breites System von
kirchlichen Schulen, „aber mir ist nicht bekannt, dass wir uns bei der Entwicklung
eines ganzheitlichen Bildungskonzepts bisher sehr hervorgetan haben", so Marx. Ein
Ziel müsse etwa darin bestehen, ein „nur instrumentelles Verständnis von Bildung"
aufzubrechen.
(kap 07.08.2016 gs)
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