2016-07-07 10:00:00

Amnesty: „Flüchtlinge sollten Libyen lieber nicht betreten“


Das Mittelmeer – ein rechtsfreier Raum. Das lässt sich getrost sagen, wenn man Berichte von Menschenrechtsorganisationen aus Transitländern der Flüchtlinge wie Libyen hört. Die Rede ist von sexueller Gewalt, Folter, Tötungen, religiöser Verfolgung und sogar Organhandel.

Wenn die Flüchtlinge aus Afrika an Europas Häfen an Land gehen, kann man an ihren Gesichtern nur erahnen, was sie auf dem Weg durch Wüsten und über das Meer alles erlebt haben. Amnesty International wollte es genau wissen und hat deshalb 90 Flüchtlinge in Apulien und Sizilien befragt, die über Libyen nach Europa geflohen waren.

„Die Gewalt beginnt bereits, sobald die Flüchtlinge ihr Land verlassen und in die Wüste gehen. Sie werden von Schleppern aufgegriffen, die mit kriminellen Banden in Verbindung stehen, und schon bevor sie nach Libyen kommen, werden sie dem Tod durch Krankheiten, Hunger oder Gewalt überlassen“, sagt Riccardo Noury, Sprecher bei Amnesty International. „Wenn sie dann in Libyen sind, wird es noch schlimmer! Sie werden brutal behandelt, sowohl in den offiziellen Aufnahmezentren als auch in den informellen Lagern. Das sind meistens Keller, verlassene Fabriken oder Privatunterkünfte. Besonders diejenigen, die nicht bezahlen können, werden gefoltert, gefangen gehalten bis ihre Familienangehörigen Geld geschickt haben um sie zu befreien, oder sie werden eben umgebracht.“

Die libysche Küstenwache, mit der auch die EU kooperiert, trage eine Mitschuld an dem Leiden der Flüchtlinge: Seit Ende Mai habe sie 3.000 Menschen aus dem Meer gezogen und wieder in die Lager gebracht, von denen es 24 irreguläre im Land gibt, die vorwiegend von bewaffneten Banden, auch Islamisten kontrolliert würden. Diese Lager entziehen sich komplett der Kontrolle der neuen libyschen Regierung, die ja auch von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Insbesondere die Europäische Union müsse ihre widersprüchliche Flüchtlingspolitik ändern, fordert Amnesty: „Diese Politik ist widersprüchlich, weil sie einerseits die Schlepper verfolgt, aber andererseits keine andere Möglichkeit für die Flüchtlinge schafft, nach Europa zu kommen.“ Die Kontrollen würden nach Außen verlagert, Abfahrten verhindert und Libyen sei wie schon zu Gaddafis Zeiten der wichtigste Verbündete. „Dabei sollten die Migranten dieses Land nicht einmal betreten, weil hier keinerlei Sicherheit für sie garantiert ist. Es braucht vielmehr Resettlement-Möglichkeiten, die Nachbarländer müssen die Menschen aufnehmen, die aus ihren Heimatländern fliehen, es müssen humanitäre Korridore geschaffen werden.“

Auch humanitäre Aufnahmeprogramme, Studienerlaubnis oder Familienzusammenführungen seien wichtig, um das Leiden der Flüchtlinge zu verringern, sagt Noury.

Religiöse Verfolgung, sexuelle Gewalt, Organhandel

Die Situation der Christen in den Lagern ist den Berichten zufolge besonders schwer. Christen würden dort diskriminiert, Frauen zu Sexsklavinnen gemacht und gezwungen, zum Islam zu konvertieren, berichtet Amnesty. Neben der religiösen Verfolgung der Flüchtlinge kommt noch ein weiteres Übel hinzu: Der Organhandel: Wenn ein Flüchtling die Überfahrt übers Mittelmeer nicht bezahlen kann, wird er getötet und seine Organe verkauft. Auch Kinder sind davon betroffen, weiß der eritreische Priester Don Mussie Zerai: „Wir sind besorgt um die hunderten minderjährigen Flüchtlinge, die nach ihrer Ankunft in Europa untergetaucht sind. Wir wissen nicht, was mit ihnen passiert. Auch hier in Europa haben wir das mitbekommen: In Idomeni hatten Flüchtlinge auf Leute hingewiesen, die für die Bezahlung einer Flucht ein Stück Leber oder Niere wollten.“

Diese Dinge geschehen also auch auf Europäischem Boden. Die Aufdeckung eines kriminellen Netzwerks in Ägypten hat ergeben, dass die Einnahmen aus dem Organ- und Menschenhandel zum Teil nach Palermo und Rom gingen.

Don Zerai betont, dass er gemeinsam mit der Nichtregierungsorganisation „Habesha“ bereits Europol und Interpol auf den Organhandel auf Kosten der Flüchtlinge hingewiesen habe. Er sei froh, dass das Thema nun mehr Aufmerksamkeit bekomme. „Dennoch werden in diesem Moment, in diesen Stunden Menschen zwischen Ägypten, Sudan und Libyen noch immer festgehalten werden. Es gibt nach wie vor diese Formen der Erpressung: Wer nicht bezahlen kann, riskiert, dem Organhandel zum Opfer zu fallen.“

Die Menschen, so sieht es auch Don Zerai, müssen aus den Händen der Schlepper befreit werden. Vorbeugen könne man das Problem bereits im Herkunftsland der Flüchtlinge. Das aber brauche Zeit. „In der Zwischenzeit müssen wir die Menschen beschützen, auch in den Transitländern und legale Einreisewege schaffen, humanitäre Visa.“ Heute seien die Botschaften in Afrika unerreichbar: „Das sind Festungen, die von Militär bewacht werden und an die man sich nicht herantraut. Diese Menschen, die sich nicht mal an die Botschaften herantrauen, um eine Anfrage zu stellen, finden keine Alternative, als sich diesen Schleppern auszusetzen, die keine Skrupel haben und bereit sind, sie umzubringen und ihre Organe zu verkaufen.”

(rv 05.07.2016 cz)








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