2016-06-12 13:00:00

Österreich: „Jede Festung verhungert, wenn man die Zugbrücke hochzieht"


Das Flüchtlingsproblem in Deutschland und Österreich ist „nur die Spitze des Eisbergs" einer globalen Migrationsbewegung, gegen die keine Abschottung hilft, sondern die offensiv gesteuert und genutzt werden muss. Diese Überzeugung äußerte der scheidende Flüchtlingsberater der Bundesregierung und frühere Leiter des größten Flüchtlingslagers in Nahost, Kilian Kleinschmidt, bei einer „Kathpress"-Veranstaltung im Rahmen der „Langen Nacht der Kirchen" in Wien. Das Podiumsgespräch in der Deutschordenskirche hatte das Thema „Flucht und Vertreibung".
Weltweit, besonders in Afrika, aber auch im dicht bevölkerten Pakistan, finde eine gewaltige Menschenbewegung statt, die zu einem großen Teil im Klimawandel und in der in Mitleidenschaft gezogenen Umwelt ihre Ursache habe. Kleinschmidt, Wahlwiener seit zwei Jahren, erwähnte die Austrocknung großer Gebiete, aber auch Flutkatastrophen wie jene in Pakistan 2010, durch die zehn Millionen Menschen ihre Häuser verlassen mussten.
Menschen seien gezwungen, ihre Heim hinter sich zu lassen - ob sie als Flüchtlinge anerkannt würden oder nicht. Viele davon versuchten, in stabilere Länder zu kommen. Europa müsse das akzeptieren und könne sich durch keine Zäune schützen. Vielmehr brauche es Zuzug, denn „jede Festung verhungert, wenn man die Zugbrücke hochzieht".
Die österreichische Flüchtlingspolitik erkenne das bedauerlicherweise nicht, und dies führe im Ausland „zu großem Kopfschütteln". Was vor allem fehle, sei ein Plan zur Integration und ein Plan zum generellen Umgang mit dem Phänomen Migration und Flucht. Es müsse legale Wege geben, auf denen sich Vertriebene bewegen können, so Kleinschmidt; es könne nicht sein, dass Reisefreiheit „nur für jene gelten soll, die reich sind, oder die einen österreichischen oder deutschen Pass haben". Der UN-Flüchtlingsexperte wies darauf hin, dass es Ansätze zu Antworten gebe. Es gebe vorausschauende Politiker und Experten, die brauchbare Konzepte erarbeitet hätten.
Hoffnung auf Flüchtlingsgipfel
Kleinschmidt setzt in diesem Zusammenhang Hoffnungen auf den Flüchtlingsgipfel im Rahmen der UN-Vollversammlung Anfang September. Der dort zur Besprechung kommende Plan sehe die legale Umsiedlung von zwei Millionen Menschen aus Flüchtlingslagern vor. Diese Zahl entspreche zehn Prozent aller registrierten Flüchtlinge. Für sie solle es humanitäre Korridore in westliche Staaten geben.
Wie Kleinschmidt weiter hervorhob, müsse es darüber hinaus aber auch zu einer Erweiterung der 70 Jahre alten Genfer Flüchtlingskonvention kommen: „Denn was ist mit den Millionen Menschen, die nicht als Flüchtlinge registriert sind, die aber keinen Zugang zu Wasser und keine Arbeit haben?"
Migrationsforscher sähen auch für diese Menschen Chancen, ohne dass es zu einer Belastung der Aufnahmeländer kommen müsse. Der UN-Experte erinnerte an den Entwicklungshilfeeffekt von Migration: Migranten überwiesen im Vorjahr 900 Milliarden Euro zurück in ihre Heimatländer; ganze Dorfgemeinschaften lebten davon. Ein wichtiger Punkt sei die Ausbildung. Das habe etwa Jordanien erkannt, wo massiv in IT-Schulung investiert werde.
Außerdem müsse früh begonnen werden, Flüchtlingslager in selbst verwaltete städtische Strukturen umzuwandeln. „Das Schlimmste ist, wenn ein Lager 30 Jahre in den Händen einer humanitären Organisation ist." Das habe er etwa in Kenia erlebt, so Kleinschmidt.
In diesem Zusammenhang äußerte er Lob für die Arbeit von Caritas und Diakonie in Österreich, hob aber gleichzeitig die Gefahr einer zu späten Selbstständigkeit der Menschen hervor. Dazu komme auch das Problem, dass die Spendenfreudigkeit nicht gleich hoch bleiben werde.

(kap 12.06.2016 gs)








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