2016-06-08 11:17:00

Irak: IS gerät in Bedrängnis - und schlägt umso grausamer zurück


In der belagerten IS-Hochburg Falludscha werden Zivilisten durch die Terroristen als Schutzschilder missbraucht. Wer die Flucht wagt, wird erschossen. Erst am Montag wurden in Mossul, der Hochburg der Milizentruppen, 19 jesidische Frauen und Mädchen bei lebendigem Leib öffentlich verbrannt. Diese Gräueltaten sind Teil der asymmetrischen Kriegsführung der Terrororganisation Islamischer Staat, die sich durch die immer entschlossenere militärische Offensive internationaler Verbündeter zunehmend in Bedrängnis sieht. Immer mehr erschreckende Details werden täglich aus dem Kriegsgebiet bekannt.

Seit mehr als zweieinhalb Jahren ist die nur 60 Kilometer vor der Hauptstadt Bagdad liegende Stadt Falludscha nun bereits in den Händen des IS. Dieser hat die Stadt – nach Mossul - inzwischen zu seiner zweitwichtigsten Bastion ausgebaut. Irakische Regierungstruppen und Verbündete haben nun in einer seit Tagen andauernden Offensive nach und nach einige Stadtviertel zurückerobert, dabei wurde auch ein Massengrab mit etwa 400 Toten – vor allem irakische Militärs, aber auch Zivilisten – entdeckt. Die Offensive geht jedoch schleppend voran, da die Truppen fürchten, die als Schutzschilder benutzen Zivilisten zu treffen. Das bestätigt gegenüber Radio Vatikan Lise Grande, die Koordinatorin der Vereinten Nationen für humanitäre Maßnahmen im Irak.

„Das ist exakt das, was uns erzählt wurde. Wir haben erfahren, dass der IS ganze Familien dazu zwingt, in der Stadt zu bleiben, sie dürfen nicht gehen und sich in Sicherheit bringen. Das ist ein klarer Verstoß gegen die internationalen Normen, die die Konfliktparteien dazu verpflichten, die Zivilisten bestmöglich zu schützen und ihnen Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen zu garantieren. Zivilisten als Schutzschilder zu missbrauchen ist absolut inakzeptabel, und dennoch ist dies das Schicksal von abertausenden Familien in Falludscha.“  

Wer fliehen will, wird erschossen, ist eine weitere bedrückende Gewissheit der vergangenen Tage. Das erzählen diejenigen, denen die gefährliche Flucht trotz der widrigen Umstände geglückt ist. Etwa 15.000 Menschen seien es, die nun in Auffangeinrichtungen untergebracht sind, erzählt Grande.

„Diese Familien erzählen von stundenlangen Märschen nach einer Flucht mitten in der Nacht; wir wissen von vielen Fällen, in denen auf die Familien geschossen wurde und viele auch getötet wurden… Es gibt schreckliche Geschichten, noch von heute, wo Menschen derart verzweifelt waren, dass sie versucht haben, den Fluss zu durchqueren, obwohl sie gar nicht schwimmen konnten und dabei umgekommen sind. Niemand würde in dieser Situation fliehen. Dass sie es dennoch versuchen, zeigt das Ausmaß der herrschenden Verzweiflung.“

Die irakischen Truppen versuchen seit Tagen, die Stadt von den Terroristen zu befreien, doch die Rücksicht auf die verbliebenen Zivilisten hemmt die Offensive der Koalition. „Der Einsatz zur Befreiung von Falludscha könnte binnen Tagen abgeschlossen werden“, wird der irakische Regierungssprecher Saad al-Hadithi von Medien zitiert. Doch die Sicherheit der Zivilisten gehe bei der Operation vor. Handeln ist jedenfalls dringend nötig: Lebensmittel und Medikamente werden knapp, auch das Wasser geht zur Neige.

Nach Falludscha solle die Terrororganisation dann aus Mossul und dem gesamten Nordirak vertrieben werden, heißt es. Doch die damit verbundenen Militäreinsätze werden Millionen von Menschen heimatlos machen, ist Grande besorgt:

„Wenn wir auf die kommenden Monate blicken, fürchten wir, dass wir rund drei Millionen hilfsbedürftige Iraker haben werden, und diese kommen zu den bereits 3,4 Millionen Vertriebenen dazu. Das ist dramatisch: Ein derart große Anzahl von Personen, die sich in einer verzweifelten Situation befinden und die internationale Hilfe zum Überleben benötigen. Die Vereinten Nationen haben 860 Millionen Dollar Soforthilfe angefordert, um dieses Jahr 7 Millionen Irakern zu helfen. Wir hoffen verzweifelt darauf, dass die Internationale Gemeinschaft mobil macht, um diese Summe zusammenzubekommen. Das irakische Volk verdient diese Hilfe.“

In Mossul selbst wartet man in diesen Tagen jedenfalls verzweifelt auf die Befreiung von den Terroristen. Von diesem Dienstag ist die Nachricht, dass die Milizen des Islamischen Staates am Montag 19 jesidische junge Frauen bei lebendigem Leib öffentlich verbrannt haben. Der von der IS selbst verbreitete Grund: Die Frauen wollten sich nicht mit den für sie ausgewählten Terrorkämpfern „verheiraten“ lassen. Doch dieser Grund ist für Martina Pignatti Morano nur vorgeschoben. Sie ist mit ihrer NGO „Eine Brücke für…“ (Un ponte per) seit nunmehr 25 Jahren auf irakischem Terrain präsent. Gegenüber Radio Vatikan sagte die Italienerin:

„Das ist für den IS eine Vergeltungsaktion gegenüber der irakischen Regierung, der internationalen Gemeinschaft, der Regierung des irakischen Kurdistan und gegen die Militäroffensive, die in diesen Tagen gegen sie verstärkt wird. Die Verbrennung der Frauen ist Teil einer klaren Strategie, nach der der IS auch andere Muslime in den besetzten Gebieten verbrennt, mit dem Vorwurf, sie seien Spione.“

Für die grausame Hinrichtung der jungen Frauen hat der IS ausgerechnet den ersten Tag des Ramadan gewählt, nicht ohne im Vorfeld die Satellitenantennen der Zivilisten in der gesamten Ninive-Ebene zu konfiszieren. Das dient nach Einschätzung der Aktivistin dazu, die Zivilisten über die Vorkommnisse im Unklaren zu lassen und so die eigene militärische Verteidigung zu organisieren. Doch neben der militärischen Offensive müsse man vor allem mit den Zivilisten vor Ort arbeiten, um die Befreiung der Gebiete tatsächlich zu erreichen, so Pignatti Morano:

„Wir sehen, wie bei einem Projekt, das wir mit den Vereinten Nationen in der Ninive-Ebene gestartet haben, alle Glaubensgemeinschaft gemeinsam daran arbeiten, Wege des gemeinsamen Lebens zu finden: das ist es, was die Befreiung dieser Gegenden erst möglich macht. Auch deshalb, weil es diese unterschwelligen Probleme waren, die dem IS dabei geholfen haben, in das Territorium vorzudringen, indem sie die Konflikte zwischen den lokalen Gemeinschaften ausgenutzt haben. Solange wir nicht an diesen politischen und sozialen Vorgängen arbeiten, gibt es keine Befreiung vom IS, denn es gibt keine Perspektive für die Lösung dieser Konflikte.“

(rv 08.06.2016 cs)








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