2016-04-19 13:06:00

Brasilien: Die Armen zahlen die Rechnung


Das Amtsenthebungsverfahren gegen die brasilianische Präsidentin wird durchgeführt. Mit einer unerwartet großen Mehrheit hat sich das Parlament am Sonntag dafür ausgesprochen, das Verfahren gegen die Präsidentin zuzulassen, offizieller Grund dafür ist eine angebliche Schönigung der Haushaltszahlen im Jahr 2014, um ihre Wiederwahl zu sichern. Die Paralysierung der staatlichen Apparate, die ein solches Verfahren mit sich bringt, wird aber vor allem für eines sorgen: Dass es letztlich die Ärmsten sind, die die Rechnung einer Politik bezahlen, die sich auf Korruption und Vetternwirtschaft stützt. Das sagt uns im Interview Norbert Bolte, er ist Brasilienreferent bei kirchlichen Lateinamerikahilfswerk Adveniat:

„Wir spüren bei unseren Projektpartnern eine große Unsicherheit die sich auf mehrere Ebenen bezieht. Man kann nicht automatisch davon ausgehen, dass die Sozialprogramme weiterlaufen, die bisher ein wichtiger Bestandteil der Armenpolitik der Präsidentin Dilma und auch ihres Vorgängers waren. Bereits seit ein paar Monaten sind Teile des Regierungsapparates praktisch paralysiert, das heißt, man muss damit rechnen, dass nicht alle Projekte so durchgeführt werden können wie geplant. Selbst wenn Zusagen für Gelder existierten, ist nun unsicher, ob das Geld für bestimmte Maßnahmen bereitgestellt wird.“

Bei diesem Verfahren spiele es sicherlich eine zentrale Rolle, dass mit der Wahl des Präsidenten Lula im Jahr 2002 erstmals die bislang herrschende politische Elite in die Opposition gedrängt wurde – eine Rolle, mit der sich die geldstarke Elite niemals abfinden wollte. Nach der letzten Wahl Rousseffs, die nur mit knapper Mehrheit ihr Amt verteidigen konnte, habe die wieder erstarkte alte Führungsriege nun Druck gemacht:

„Das Amtsenthebungsverfahren wurde im vergangenen Jahr eingeleitet und schlummerte erst einmal mehrere Monate in der Schublade des Parlamentspräsidenten. Der zog es dann aus der Tasche, als er selbst von Ermittlungen im Zusammenhang mit Korruption betroffen war. Dieses Verfahren beruht auf einer rein formalen Argumentation, nämlich dass die Präsidentin gegen das Haushaltsgesetz verstoßen haben soll. Das wird allerdings von vielen Juristen angezweifelt, so dass der eigentliche Punkt, der zu einer Amtsenthebung führen könnte, nämlich eine schuldhafte Verstrickung der Präsidentin in illegale Machenschaften, nicht gegeben ist.“

Auch in der katholischen Kirche des Landes seien die Geister gespalten: Doch in ihrer kürzlich herausgegeben Erklärung nach der Vollversammlung der Bischöfe fänden sich deutliche Worte, in denen sich sicherlich die Mehrheit der Kirchenvertreter wieder erkennen könnte, so Bolte:

„Zum Einen sprechen sie von einer tiefgreifenden ethischen, politischen, ökonomischen und institutionellen Krise, die das Land Brasilien momentan erlebt. Dabei prangern sie in besonderer Weise die Korruption an und sagen aber gleichzeitig, dass die Korruption nicht etwas ist, das zur Zeit der Regierung Dilma erfunden wurde, sondern etwas ist, das in der Geschichte des Landes schon lange verankert ist. Dazu erinnern sie, dass diejenigen, die die Korruptionszeche bezahlen werden, die Armen sind. Papst Franziskus drückt das so aus: Die Armen sind die Märtyrer der Korruption.“

Die Bischöfe seien schon seit langem aktiv daran beteiligt, eine Gesetzesinitiative auf den Weg zu bringen, die tiefgreifende politische Reformen vorschlägt, die das Wahlgesetz und die Parteienfinanzierung betreffe. Doch noch sei die Initiative in den Startlöchern. Einen allzu positiven Ausblick auf die nähere Zukunft könne er uns leider nicht geben, bedauert Bolte. Zunächst einmal sei eine Amtsenthebung Dilmas, ob nun gerechtfertigt oder nicht, aufgrund der Stärke ihrer Gegner doch sehr wahrscheinlich. Und dann?

„Wer nun ihr politisches Erbe antreten wird, ist in der Regel – im Gegensatz zur Präsidentin Dilma – sehr stark mit der Korruption verbunden und einige haben sogar konkrete Prozesse gegen sich laufen. Wenn man sich die Gesellschaft insgesamt anschaut, gibt es schon einige Akteure, die sich für politische Erneuerung einsetzen und dafür auch Kampagnen starten, die darauf hinauslaufen, dass sich ab einer Zahl von einem Prozent der Wahlberechtigten das Parlament mit Vorschlägen zu politischen Reformen auseinandersetzen muss. Inwiefern sich dieses allerdings später einmal als politische Kraft organisieren und im Parlament artikulieren kann, ist eine ganz andere Frage. Insofern sehe ich aber auch eine Chance in der derzeitigen Krise, dass in der Gesellschaft in einer breiteren Weise über die Grundlagen von Demokratie diskutiert wird und eine größere politische Meinungsbildung im Land entstehen kann.“

(rv 19.04.2016 cs)








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