Gotthard Fuchs, Jahrgang 1938, Studien der Philosophie, Theologie und Pädagogik,
Priesterweihe 1963 in Paderborn, 1983 bis 1997 Direktor der Katholischen Akademie
Rabanus-Maurus der Diözesen Fulda, Limburg und Mainz, seitdem Ordinariatsrat für Kultur,
Kirche und Wissenschaft in den Bistümern Limburg und Mainz. Durchlaufend Seelsorge-,
Bildungs- und Beratungsarbeit, Lehraufträge und Vorträge, zahlreiche Veröffentlichungen
mit dem besonderen Schwerpunkt "Geschichte und Gegenwart christlicher Spiritualität
im interreligiösen Gespräch“. Das ist - kurz gesagt - Pfarrer Dr. Gotthard Fuchs.
Herr Dr. Fuchs, soeben hat Papst Franziskus sein drittes Pontifikatsjahr beendet.
Drei Jahre sind für die Bewertung eines Pontifikats relativ wenig. Aber man kann es
ausleuchten, sozusagen in ein Flutlicht stellen. Wie stellt es sich da? Wo liegen
die Hauptakzente?
„Ich würde vom Gesamteindruck her erst einmal sagen, das Stichwort heißt Lebendigkeit.
Ein ganz großes Gottvertrauen, das spürbar wird in einer spontanen Bejahung der Gegenwart,
keine Träumereien nach hinten und nach vorne, und eine elementare Konzentration auf
das Evangelium unter dem Stichwort Barmherzigkeit, was natürlich auch Gerechtigkeit
impliziert.“
Anlass dieses Gespräches von heute, Herr Dr. Fuchs, war eigentlich der Titel eines
Vortrags, den Sie vor kurzem in Österreich gehalten haben. Dieser Titel sprang mir
sofort ins Auge. Er hieß „Kirche ist keine moralische Anstalt“. Was soll sie hingegen
sein?
„Eine Dienerin des Evangeliums - und das Wunder und das Geschenk des Evangeliums lautet
ja, dass wir uns auf einen Gott in Jesus Christus beziehen dürfen, der seine Sonne
aufgehen lässt über Guten und Bösen und der einen universalen Heilswillen hat, also
als der Schöpfer jedes Menschen. Jesus Christus als der Bruder aller Menschen zeigt
eine göttliche, erbarmungsvolle, universale Offenheit, die quer steht zu einem Denken
in moralischen Kategorien, jedenfalls in Spannung dazu. In gewisser Weise könnte man
zuspitzen und sagen, das Evangelium, also die Rechtfertigung des Gottlosen, wie man
auch sagte, ist im Kern unmoralisch oder trans-moralisch.“
Die Zahlen der Katholiken, wir wechseln das Thema, ist weltweit im Wachsen, außer
in Europa. Vermutlich ist das Ansteigen der Zahl der Bevölkerung in Asien, Afrika
und Lateinamerika als Grund dafür zu suchen. Wo jedoch liegt die Ursache der Verringerung
der Zahl der Gläubigen, des Ausstiegs von Katholiken aus der Kirche bei uns in Europa?
„Die europäische Situation ist, denke ich, ganz wesentlich dadurch geprägt, dass das
Christentum seit 2000 Jahren einen Prozess auch der Emanzipation und Säkularisierung
hervorgebracht hat. Der Gott, an den wir Christen glauben, lässt ja die Welt frei
in ihre Weltlichkeit und gibt den Menschen frei in seine Freiheit. Dieses Mysterium
der Gottesfreundschaft, das in Freiheit, in wechselseitiger Freiheit sogar, sich vollzieht,
hat ganz Europa geprägt weit über die Kirchen hinaus. Vieles Christliche, vieles genuin
Christliche ist also säkularisiert präsent. Von daher ist es sehr gefährlich, finde
ich, dass wir die Gegenwart des Christlichen in Europa fixieren auf die real existierenden,
sichtbaren Kirchen. Das ist, glaube ich, der wichtige Unterschied zu anderen Kulturen,
die später das Christentum kennen gelernt haben, natürlich auch anders als etwa zu
USA, das eine ganze andere Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche hat. Aber Europa
ist natürlich durch diesen christlich mit initiierten Emanzipationsprozess heute in
einer Krise, wo es neu, ganz neu, die Mitte des Evangeliums als seinen eigenen Schatz
entdecken darf und entdecken muss. Das ist herausfordernd auch für die historisch
gewordene Gestalt der Kirchen. Denn die Kirchen in Europa sind ja in gewisser Weise
doch seit Konstantin, das darf man gerade hier in Rom sagen, imperial strukturiert.
Wenn ich den jetzigen Papst richtig verstehe, will gerade er einen Abschied von dieser
Kirchengestalt und stattdessen eine Kirchengestalt des Dienens, der Diakonie, der
Barmherzigkeit.“
Wohin, Herr Dr. Fuchs, wird der Weg der nächsten Jahre oder vielleicht auch Jahrzehnte
die Menschheit hinführen? Ich stelle diese Frage einem umsichtigen Seelsorger, Philosophen
und Wissenschaftler. Wer wird die Zukunft bestimmen? Das Gute, das Böse, die Vernunft
oder die Unvernunft?
„Diese Frage ist so alt wie Adam und Eva. Denn sie bezieht sich natürlich darauf,
dass wir als Christen sagen, wir leben in einer wunderschönen, von Gott getragenen,
bejahten und behüteten Welt, aber jenseits von Eden, also mit dem Stigma des Sündenfalls,
das heißt mit einer strukturellen Tendenz aller Menschen zur Gier, zur Angst, zu kurz
zu kommen und damit auch zur Gewalt. Von daher ist dieses Verhältnis von Vernunft
und Unvernunft und ständig neu aufgegeben. Es hängt sicherlich für die Zukunft der
Welt entscheidend davon ab, dass das Evangelium gelebt wird, dass es wach gehalten
wird, gerade als eine Kraft, die das Vernünftige stark macht und das Unvernünftige
heilt. In dieser Perspektive können wir als Christen gar nicht zuversichtlich genug
sein, wie wir es die letzten 2000 Jahre auch waren. Aber es ist ein gigantische Epochenwandel.
Ich brauche nur auf die Mediensituation hinzuweisen, auf das Gefälle von Arm und Reich
und das dadurch entstehende gewaltige Gewaltpotenzial.“
Ich möchte jetzt wieder den Seelsorger und den Philosophen ansprechen. Wolfgang von
Goethes berühmtes Wort „Verweile Augenblick, Du bist so schön“ ist weltbekannt. Kaum
ein Seelenzustand signalisiert die Vergänglichkeit treffender als diese berühmte Aussage.
Glück, aber zugleich das Wissen, dass es vergänglich ist, sprechen daraus. Gibt es
einen sicheren Ort, wo der Schlüssel zur Überwindung der Vergänglichkeit verborgen
liegt?
„Als Christ sage ich entschieden ja, denn seit Inkarnation und Ostern dürfen wir davon
ausgehen, dass Gott endgültig zur Welt gekommen ist und sich nicht wieder abschieben
lässt, sag ich mal, und dass in dieser Geschichte alle christlich glaubenden von der
Gewissheit leben, dass Gott sich in allen Dingen finden lässt, auch in allen Zeiten,
und dass Glauben ja das Geschenk ist, sich von ihm finden zu lassen in alle Dingen
und ihn zu finden. Das spiegelt sich darin, dass dieses Goethewort von der Vergänglichkeit
und von der Beschwörung des Augenblicks christlich gelesen einen anderen Akzent bekommt.
Wenn zum Beispiel der junge Meister Eckart sagt „Mit Gott kannst Du nichts versäumen.
So wenig Gott etwas versäumen kann, so wenig kannst Du mit Gott etwas versäumen.“
Diese genuin christliche Überzeugung, wenn Gott wirklich als der Kommende in allem
schon begegnen will und begegnet, dann ist kein Augenblick gottlos. Das ist die Gegenwart
und jeder Ort im Alltag ein Ort Gottes. Das zu leben, das hat auch das Konzil sehr
schön in “Gaudium et Spes” formuliert, Nummer 22: „Gott hat sich in Jesus Christus
mit jedem Menschen gleichsam vereinigt.“ Das gibt auch dem vergänglichen Augenblick
und dem Stigma der Vergänglichkeit und auch er Sündigkeit eine ganz neue Perspektive,
weil dann ein vom Evangelium gespeister, nicht billiger, sondern hoffnungsgeprägter
Optimismus den Christen prägen soll, und dass das Wunder der Realpräsenz Gottes, dass
wir in der Eucharistie natürlich besonders feiern, das gilt dann in Wahrheit für jeden
Augenblick.“
Der christliche Glaube und die Institution Kirche sind nicht ein und dasselbe. Das
zeigt die zweitausendjährige Kirchengeschichte deutlich auf. Den Glauben haben Sie,
Herr Dr. Fuchs, kürzlich als „eine gigantische Erfolgsgeschichte“ bezeichnet. Welches
Siegel würden Sie der Institution Kirche zuschreiben? Welche Schwächen und Angriffspunkte,
aber ebenso welche Stärke und Substanz würden Sie in der Institution Kirche von heute
hervorheben?
„Ich habe sogar gewagt, von der Kirche als einer gigantischen Erfolgsgeschichte zu
sprechen, weil die 2000 Jahren Christentum die Welt nachweislich, das ist historisch
und empirisch belegbar, verändert haben, hinsichtlich Menschwürden, Emanzipation der
Frau, Sozialfürsorge. Wie sähe die Welt aus, wenn es das Evangelium nicht gegeben
hätte. Man muss nur einmal zurückschauen in die Antike und auch in nicht-christliche
Gegenden. Das ist kein Anlass zum Triumphalismus, aber es steht uns gut an, gerade
heute im Dialog der Religionen, dass wir auch das Besondere, sozusagen den Schatz
des Evangeliums profilieren und nicht verstecken. Vor diesem Hintergrund würde ich
sagen, gehört es zur Größe gerade der Kirche, dass die Kirche seit frühesten Zeiten
gesagt hat, dass man, wenn man glaub darf, niemals an die Kirche glaubt, sondern mittels,
dank und trotz der Kirche. Die uralte, im Deutschsprachigen leider nicht so vermittelbare,
ursprüngliche Differenz. Wir glauben an Gott und wir glauben die Kirche: “credere
in deum und credere ecclesiam.” Noch der Katechismus von Trient hat das ganz stark
gemacht und das letzte Konzil hat, zum Beispiel diesen unglaublichen Satz formuliert:
„Die Kirche gesteht dankbar, dass sie selbst von ihren Gegnern und Feinden viel gelernt
hat und lernt.“ Das steht in Gaudium et Spes 44.“
Das vielstimmige Europa hat in Bezug auf das Flüchtlingsproblem die Probe zur konkreten
Nächstenliebe nicht oder nur halbherzig bestanden. Die vielfache päpstliche Mahnung
zur Barmherzigkeit ist nur teilweise auf offene Ohren gestoßen. Die Chance, ein guter
Christ zu sein, ist offenkundig nicht oder nur teilweise angenommen worden. Wie wird
die Geschichte einst über diese Haltung urteilen?
„Ich wäre da zuversichtlicher, wenn man in etwas größeren Zeiträumen denkt und wenn
man das Verhalten jetzt in Europa und auch in den USA, also in christlich geprägten
Ländern vergleicht etwa mit muslimisch, buddhistisch oder hinduistisch geprägten Ländern.
Man wird auch fragen dürfen Richtung Russland: „Was haben denn diese Länder getan
im Blick auf die Flüchtlinge bisher und was geschieht in christlichen Ländern? Die
Türkei handelt jetzt auch und sofort Jordanien, aber, dass das Ganze eine unglaubliche
Herausforderung ist, der wir uns stellen müssen, an der sich neu zeigen muss, was
Christlichkeit ist, ist evident. Was geschehen ist, ist immer noch nicht genug, aber
es ist auch nicht nichts. In der Richtung müssen wir natürlich neu auch einen nachchristlichen
Humanismus mit einem christlichen Humanismus ins Gespräch bringen in der Offenheit,
die der Papst zum Beispiel immer wieder promulgiert und auch der letzte Papst ja sehr
unterstrichen hat.“
Ich hätte noch eine Frage. Es heißt „Der Glaube befreit die Hoffnungslosigkeit.“ Eine
Frage für den Vorhof der Völker, auch eine Frage für Kardinal Ravasi zum Beispiel.
Ich denke, es gibt wenige Menschen, Herr Dr. Fuchs, welche die historische und die
biblische Gestalt von Jesus Christus, seiner erhabenen und kompromisslosen Haltung,
Lebenshaltung, seinem eindrucksvollen Wirken nicht mit größter Achtung und Bewunderung
begegnen - aber es gibt viele Menschen, die sich schwer tun, Jesus als Sohn Gottes
anzunehmen. Das ist eine Kernfrage, das ist mit bewusst.
„Der ökumenisch bekannte und bedeutende Theologe Dietrich Bonhoeffer hat einmal gesagt:
„Jede Zeit und jeder Mensch muss für Jesus den höchsten Namen finden, den sie zur
Verfügung haben.“ Alle Jesus-Titel, auch schon im Neuen Testament sind ja Liebeserklärungen.
Die damalige Zeit des Neuen Testamentes und der frühen Kirche hat die damals verfügbaren
Ehrentitel aus der damaligen Welt aufgenommen, um damit das Höchste von Jesus zu sagen,
was sie sagen können. Dazu zählt auch der Titel „Sohn Gottes“, den bekanntlich der
Kaiser von Rom gewählt hat, der damals für große Gestalten, sagen wir mal, in Kultur
und Politik und Religion selbstverständlich war und nicht, sozusagen, diese metaphysische
Dimension hatte, die wir damit verbinden. Von daher sind wir heute in einer Schwierigkeit,
weil wir einerseits die Glaubensbekenntnisse von damals haben und das Neue Testament,
es aber nicht eins zu eins wiederholen können, weil wir in einer anderen Kultur sind.
Die großen Theologen, Karl Rahner etwa oder Urs von Balthasar, haben sich ihr Leben
lang daran abgearbeitet, was die Kirche und das Neue Testament damals gesagt hat.
Deswegen müssen wir das heute sagen mit Titeln, die womöglich neu sind und auf den
ersten Blick in einer gewissen Spannung stehen zu den Überlieferten. Nicht jeder,
der heute sagt: „Ich glaub nicht an Jesus, den Sohn Gottes“ ist deswegen ein schlechter
Christ, weil er mit Sohn Gottes etwas völlig anderes verbindet als die Konzilien damals
und das Neue Testament. Um bei Bonhoeffer zu bleiben: Er hat zum Beispiel gesagt „Jesus
ist der Mensch für Andere.“ Er hat also die Proexistenz, die Hingabe Jesu so in den
Mittelpunkt gestellt und das auf seine Weise zu formulieren versucht, ganz Jesus ähnlich
mit einer förmlichen Christus-Mystik. Das ist nur ein Beispiel. Es gibt viele andere.
Natürlich muss vermieden werden, dass Jesus nur ein moralisches Vorbild ist, in christlicher
Perspektive. Es muss vermieden werden, dass er nur ein großer Prophet ist wie auch
im Islam zum Beispiel. Wir verbinden als Christen mit Jesus das Geheimnis der nicht
nur Gegenwart Gottes in einem allgemeinen Sinne, sondern wir sagen, in ihm, wie der
Kolosser Brief das schon sagt, ist die Fülle der Gottheit oder wie der Mystiker Johannes
von Kreuzer es wunderbar gesagt hat: „In Jesus hat Gott uns alles gesagt, was er zu
sagen hat und seitdem ist er gleichsam verstummt“, weil er in Jesus Christus, dem
Wort Gottes, auch so ein Titel, alles gesagt hat. Auf dieser Linie würde ich die kostbaren
Jesus-Titel der Tradition natürlich hochhalten, aber wir müssen sie übersetzen und
müssen daran erinnern, dass wir sie nicht einfach nachplappern können. Vieles, auch
in Richtung modernem Atheismus, ist dadurch entstanden, dass die Kirche zu denkfaul
geworden ist und zu wenig übersetzungskreativ. Das ist auch heute eine große Not und
ich verstehe das Wirken des jetzigen Papstes auch so, dass er sozusagen das diakonische,
das kulturelle Klima so vom Zentrum des Evangeliums her erschließt, dass dann auch
die Jesus-Bekenntnisse einen ganz anderen Sitz im Leben haben, weil man weiß, es ist
nicht ein Streit um Worte, sondern es geht um einen „Way of Life“, es geht um eine
Art zu existieren im Leben und im Sterben.“
(rv 16.04.2016 gs)
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