2016-02-16 09:01:00

Gegen Drogengewalt: „Franziskus könnte einiges bewirken"


Zum ersten Mal wagt sich ein Papst in eines der Epizentren der organisierten Kriminalität in Mexiko: in den Bundesstaat Michoacan. Franziskus wird in der Stadt Morelia eine Messe feiern und Jugendliche treffen – Jugendliche, denen oft genug eine saubere Lebensperspektive fehlt, sodass sie in die Drogenkriminalität und die brutalsten Formen von organisierter Gewalt abgleiten. Welche Merkmale diese spezifische Form der Gewalt hat, die in Mexiko epidemische Ausmaße angenommen hat, darüber hat Gudrun Sailer mit dem aus Österreich stammenden Politikwissenschaftler Andreas Schedler gesprochen, der an der staatlichen Universität CIDE in Mexiko Stadt über Fragen der kriminellen organisierten Gewalt vor allem in Mexiko forscht.

Andreas Schedler: „Franziskus ist ja ein Papst, der bestimmte Aussagen liebt und symbolische Statements. Vor allem wenn er nach Morelia, nach Michoacan kommt, ist das ein Bundesstaat, der wirklich seit Beginn des sogenannten Drogenkriegs im Zentrum der Debatten und der Gewalt stand. Da gab es unterschiedliche Politikmodelle, die die Regierung verfolgt hat, unterschiedliche Problemverschiebungen, unterschiedliche Kartelle, die den Bundesstaat kontrolliert und unterdrückt haben – also er kommt da wirklich in eine Situation, wo sich viele Konfliktlinien überschneiden und die mexikanische Politik es sehr schwer gefunden hat, effektiv einzugreifen.“

Radio Vatikan: In Mexiko waren in den letzten 15 Jahren 100.000 Ermordete im Drogenkrieg zu verzeichnen und 25.000 Verschwundene. Wie kam es zu diesem nicht erklärten Bürgerkrieg? Welche inneren Dynamiken waren da am Werk, dass ein solcher Notstand ausbrach?

Schedler: „Es ist tatsächlich ein Notstand. Die Zahlen sind schlimmer als in den meisten Diktaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Wie wir in diese Hölle kamen, da gibt es viele Antwortversuche. Viele Analytiker verweisen auf strukturelle Ursachen wie Ungleichheit, Armut, Gewalt in vielen Lebensbereichen wie in der Familie und in den Schulen. Aber strukturelle Ursachen können nicht derart dynamische Verläufe erklären, also dass etwas in so kurzer Zeit sich derart dramatisch verändert. Die häufigste Erklärung derzeit in der Politikwissenschaft und in der Kriminologie ist die Politik der Bundesregierung.“

Der Drogenkrieg: ein singulärer Notstand


RV: Was ist daran schiefgelaufen?

Schedler: „Sehr vieles. Im Wesentlichen, würde ich sagen, war es die Militarisierung, also die politische Entscheidung, das Militär in den Drogenkrieg zu schicken, es also wirklich als Drogenkrieg zu inszenieren, und gleichzeitig nicht das Rechtssystem zu verbessern. Also hatten wir eine Lage, wo das Militär ohne gute Information und Aufklärungsarbeit gegen Kartelle vorgegangen ist mit dem Ziel, die Kartellchefs zu töten oder zu verhaften. Das hatte vielfach kontraproduktive Folgen. Wenn die Spitze des Kartells fällt, dann ist das ja nicht wie in der katholischen Kirche, dass es da eine Papstwahl gibt mit Kardinälen, die zusammenkommen und friedlich wählen, bis der weiße Rauch aufsteigt. Sondern da gibt es innere Nachfolgekriege, noch mehr Gewalt zwischen den Kartellen, die die Lage ausnützen und sagen, jetzt schwächen wir den Konkurrenten. Und es gibt Racheakte der Kartelle gegen den Staat. Eine Gewaltspirale, die weder gewünscht noch vorhergesehen ist, wenn nur die Spitze abgeschlagen wird, aber sonst das Kartell weiter funktioniert.“


RV: Hat denn die mexikanische Politik dieses falsche Vorgehen erkannt und versucht Gegenstrategien?

Schedler: „Es gibt Versuche, auf vielen Ebenen etwas zu tun. Die Militarisierung läuft weiter. Es sind nach wie vor 40.000 bis 50.000 Soldaten damit beschäftigt. Es gibt unzählige Versuche, die Polizei auf allen Ebenen zu reformieren. Oft verschärft sich das Problem aber, wenn korrupte Polizisten auf die Straße gesetzt werden: dann tun die Polizisten einfach weiter, wofür sie ausgebildet sind, sie sind Spezialisten der Gewalt - und wechseln dann die Seiten. Viele Versuche auf vielen Ebenen also. Gleichzeitig entsteht gerade bei der jetzigen Regierung der Eindruck, dass die öffentliche Meinung, das Bild wichtiger ist als das Problem.“

RV: Da scheint ins Bild zu passen, dass wenige Wochen vor dem Papstbesuch der bekannteste mexikanische Drogenboss „El Chapo“ nach seiner spektakulären Flucht aus dem Gefängnis wieder verhaftet werden konnte. Ist das ein Fassadensieg?

Schedler: „Es ist schon ein bedeutsamer Erfolg der Bundesregierung, den obersten Drogenboss wieder zu schnappen, nachdem er auf peinliche Weise entkommen ist, zum zweiten Mal letztes Jahr. Aber es ist ein Erfolg, den die Regierung versucht auszunutzen, indem sie sagt: wir sind erfolgreich, seht her, was wir leisten. Die Drogengewalt rollt aber weiter, unterhalb der Ebene der öffentlichen Wahrnehmung. Wir haben weiterhin rund 8.000 organisierte Morde im Jahr. Das Problem ist kleiner geworden im Vergleich zu 2011, aber immer noch massiv.“

Migranten: leichte Opfer für organisierte Kriminalität

RV: Welche Rolle spielen in der organisierten Kriminalität Mexikos die Migranten? Mexiko ist ein enormes Durchzugsland der Migration von Süden nach Norden, wie hängt das zusammen mit der Drogengewalt?

Schedler: „Es gibt ganz klare Zusammenhänge, und es zeigt, dass der Begriff der Drogenkriminalität oft ein falscher ist. Das Drogengeschäft selber ist verantwortlich für etwa die Hälfte der Einnahmen dieser kriminellen Organisationen. Die andere Hälfte sind andere kriminelle Tätigkeiten, die sich gut durchführen lassen, wenn man sozusagen eine Privatarmee zur Verfügung hat. Und hier kommen Migranten ins Bild. Die Zahl von Migranten, die jährlich entführt werden und für die Lösegeld verlangt wird, ist enorm, man spricht von 20.000 Entführungsfällen im Jahr. Ganz zu schweigen von Mord, Folter und anderem. Es ist Teil eines größeren Problems, das weit über die Drogen hinausgeht und eher im Hintergrund der öffentlichen Debatte abläuft. Da schwappt nur ganz selten in die Öffentlichkeit, wenn es etwas besonders Dramatisches gibt, aber sonst ist das unterhalb des Radars der Öffentlichkeit."


RV: Eine der verschwiegenen Seiten der Gewalt in Mexiko scheint auch die Gewalt gegen Frauen zu sein. Feministisch inspirierte Katholikinnen haben Papst Franziskus über den Nuntius einen Brief zugeleitet, in dem sie auf dieses Problem aufmerksam machen. Wie ist allgemein die Stellung der Frau in der mexikanischen Gesellschaft, und ist das Problem der Gewalt gegen Frauen wirklich so groß?

„Das Problem der Gewalt gegen Frauen ist mit Sicherheit dramatisch"

Schedler: „Das Problem der Gewalt gegen Frauen ist mit Sicherheit dramatisch. Generell ist es so, dass Drogengewalt eine Gewalt von Männern gegen Männer ist. 90 Prozent der Opfer sind Männer. Das Grundmuster ist: junge Männer ermorden junge Männer. Gleichzeitig gibt es aber auch massive Gewalt gegen Frauen. Der Papst wird nach Ciudad Juarez reisen, wo die Frauenmorde in den 1990er Jahren im Zentrum der Debatten über Gewalt und Unsicherheit in Mexiko standen. Einer der Nebeneffekte der Diskussionen über Drogengewalt war, dass das Thema Gewalt gegen Frauen praktisch von der Bildfläche verschwunden ist. Wir wissen aber, dass es nicht real verschwunden ist. In Oaxaca, im Bundesstaat Mexiko, an vielen Stellen gibt es erschütternde Statistiken, die aber aus der öffentlichen Diskussion herausgespült wurden durch das breitere Phänomen der organisierten kriminellen Gewalt.“

RV: Sie sagen, die organisierte Gewalt ist im Wesentlichen eine Gewalt junger Männer gegen junge Männer. Also ein Phänomen, das Jugendliche betrifft? Der Papst wird in Morelia, der Hochburg der Gewalt, sich ja ausdrücklich an Jugendliche wenden…

Schedler: „Es wäre übertrieben, es als Phänomen von Jugendbanden darzustellen. Das ist ein wichtiger Teil. Aber vielfach wissen wir ohnehin erstaunlich wenig über die Drogengewalt im Sinn von Täterprofilen oder Opferprofilen. Wir haben im besten Fall die Statistiken, Statistiken, denen wir eigentlich nicht vertrauen sollten, aber in der Regel vertrauen wir ihnen trotzdem. Da ist von Opfern der Drogengewalt die Rede, aber es sind in der Regel keine Gerichte, die uns diese Zahlen liefern, sondern die Polizei oder die Medien. Und die Grundlagen dafür sind die Symptome, wie die Opfer zugerichtet sind: gefoltert, öffentlich ausgestellt, mit bestimmten Waffentypen ermordet. Aber wir haben keine gerichtlichen Untersuchungen, keine gerichtlichen Urteile, keine Rechtssicherheit, wer wem was zufügt. Diese Statistiken würden wir in einem anderen Kontext niemals akzeptieren. Wenn eine Diktatur uns eine solche Statistik vorlegen würde, würde jeder sagen, das kann man nicht glauben. In Mexiko glauben wir das – und wissen aber nicht viel mehr. Es gibt Angaben, wonach junge Männer unter 25 überproportional vertreten sind. Aber es ist bei weitem nicht ein Problem von Jugendlichen. Es ist sehr viel breiter.“

„Franziskus könnte einiges bewirken"

RV: Was kann denn Papst Franziskus, der ein politischer Papst ist, in einer solche Lage bewirken? An sich nicht viel?

Schedler: „Ich glaube doch. Es gibt eine objektive Seite des Problems und eine, wenn man möchte, subjektive Seite – wie darüber gesprochen oder geschwiegen wird. Nach meiner Diagnose gibt es insgesamt in Mexiko eher die Tendenz, das Problem zu verdrängen. Das ist nicht nur die Regierung, die versucht es schönzuschreiben und der Welt die mexikanischen Sonnenstrände zu verkaufen, sondern es sind auch breite Schichten der Gesellschaft selber, die dazu neigen, ihr Leben weiterzuführen, wie es auch verständlich ist, den Krieg auf Distanz zu halten, möglichst wenig hinzuschauen. Es gibt da die Vorstellung, die Gewalt sei eine Gewalt von Kriminellen, das geht uns brave Bürger wenig an, und der inkompetente oder korrupte Staat kümmert sich nicht genug darum. Da strickt sich die mexikanische Gesellschaft eine einfache Geschichte. Letztlich müssen wir aber anerkennen: der Staat ist unser Staat und die Kriminalität ist unsere Kriminalität, und wir müssen zumindest beginnen, darüber nachzudenken, was unsere Rolle ist und was jeder tun kann. In einer solchen Situation der Verdrängung kann die Stimme von Papst Franziskus schon viel bewirken und mobilisieren – in dem Sinn, dass das Problem wirklich als Problem aller Staatsbürger begriffen wird.“

RV: Sehen Sie die Kirche in Mexiko engagiert genug im Aufzeigen von Problemen, die mit Drogengewalt zusammenhängen?

Schedler: „Vielleicht hat die Kirche bisher eher zu wenig getan. Die Tendenz ist, das Thema nicht zu verschweigen, aber auf eine Weise zu behandeln, die in Richtung Privatisierung oder Tröstung geht. Es gibt Messen und Gebete für die Opfer, aber für mich als Politikwissenschaftler schaut das manchmal zu harmlos aus. Ich verstehe, dass das für die Gemeinschaft wichtig sein kann, einen Raum zu haben, wo man Trost und spirituelle Unterstützung findet. Aber das sind Gesten, die im öffentlichen Raum kaum wahrgenommen worden sind. Natürlich gibt es auch eine Minderheit von Kirchenvertretern, die aktiv die Stimmen erheben. Priester und Ordensfrauen haben zu den mutigsten gehört, die etwa auch für Migranten aktiv geworden sind. Einige katholische Kirchenvertreter waren auf bewundernswerte Weise aktiv. Das ist bisher eine kleine Minderheit. Wenn sie gestärkt würde durch den Papstbesuch, wäre das ein schöner Erfolg.“

(rv 13.02.2016 gs)








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