2015-11-02 14:09:00

60 Jahre Telefonseelsorge: Das "innere Ohr" zählt


1,9 Millionen Anrufe gehen pro Jahr bei der deutschen Telefonseelsorge ein. Es geht um Einsamkeit, Depression oder Beziehungsprobleme. Mit einem Aktionstag startet das von den Kirchen getragene Angebot an diesem Montag ins Jubiläumsjahr 2016. Dann wird die von einem evangelischen Pfarrer aus England nach Deutschland importierte Telefonseelsorge 60 Jahre alt. Das Jubiläumsjahr beginnt an diesem Montag mit einem Aktionstag, bei dem mehrere Bischöfe und Mitglieder von Kirchenleitungen einige der 105 Einrichtungen bundesweit besuchen. Radio Vatikan hat aus diesem Anlass Annelie Bracke interviewt. Sie ist Leiterin der katholischen Telefonseelsorge in Köln.

RV: Frau Bracke, wer ruft bei Ihnen in der Telefonseelsorge an?

Bracke : „Wenn man sich die Themengruppen anschaut: Viele rufen an wegen Problemen in der Parnerschaft, Familie, Verwandtschaft, also in den nahen Beziehungen. Aber auch Beziehungen am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft. Sehr oft geht es auch um das Alleinsein und die innere Einsamkeit. Viele rufen an, die haben körperliche oder seelische Erkrankungen. In den letzten Jahren waren es auch zunehmend Menschen, die den Druck in der Arbeitswelt spüren, die unter Mobbing leiden oder Ängste haben. Oder Menschen, die nicht mehr am Arbeitsleben teilnehmen können und unter den geringen Möglichkeiten und Armut leiden und damit verbunden Scham empfinden und Selbstwertprobleme haben. Viele rufen auch wegen existenzieller Lebenskrisen an. Etwa 20 Prozent der Anrufer sind Kinder und Jugendliche, aufgrund von alterstypischen Problemen wie Liebeskummer, Sexualität, erste Beziehungen bis hin zu sexuellem Missbrauch in der Familie oder anderswo.“

RV: Wie sind Sie für diese Menschen da?

Bracke: „Es gibt Anrufer, denen reicht es, wenn man einfach zuhört und da ist. Wobei das gar nicht immer so simpel ist. Unsere Mitarbeiter lernen, mit ihrer ganzen Präsenz da zu sein. Also mit dem „inneren Ohr“ zu hören, sagen wir manchmal. Das heißt, ich höre auf Zwischentöne, auf Gefühle, auf etwas, was ich nicht verstehe. Das „aktive Zuhören“, wie wir es auch nennen, besteht auch darin, dass ich etwas wiederspiegele. Etwa, wenn ich sage: ‚Ich kriege mit, dass Sie zwar sehr nüchtern erzählen, aber dabei sehr traurig klingen, was schwingt da im Hintergrund mit?’ Oder dass wir mal Feedback geben und Verständnisfragen stellen, die dem Anrufer helfen, sich selber besser zu verstehen.“

RV: Worin besteht die christliche Seelsorge bei den Telefonaten?

Bracke: „Da kommt es zunächst nicht drauf an, ob über Gott gesprochen wird, oder nicht. Aber natürlich ist es so, dass viele Menschen sich in Krisen fragen, was der Sinn ihres Lebens ist. Was sie hält und wo ihre Wurzeln sind. Unsere Mitarbeiter haben schon auch eine Kompetenz, über religiöse Fragen zu sprechen. Da geht es nicht darum, den Schematismus zu kennen oder über Kirchenpolitik zu sprechen, sondern die Frage nach dem ganz intimen, persönlichen Glauben. Wir fragen dann immer, ob der Anrufer etwas hat, das ihn hält. Das ist manchmal intimer, als über Sexualität zu sprechen.“

RV: Neuerdings helfen Sie den Menschen auch über Chat-Beratungen im Internet. Ist denn das dasselbe?

Bracke: „Das war ja schon bei der Einführung des Telefons Thema. Da sagte man auch: ‚Niemals spricht jemand am Telefon über ganz persönliche Dinge, dabei muss man sich doch gegenüberstehen!’ In den 50er Jahren war das ja noch nicht so verbreitet und sofort haben Menschen dieses Angebot genutzt und gemerkt, dass die Mimik dabei gar nicht fehlt. So ist es dann, wenn man es weiterdenkt, auch in der geschriebenen Sprache. Diese ersetzt die Mimik und den Tonfall. Man kann da sehr viel raushören, wenn man dafür geschult ist und darauf achtet.“

(rv 2.11.2015 cz)








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