2015-07-12 09:54:00

Papstrede: „Für einen Fortschritt mit menschlichem Antlitz“


Hier finden Sie den fast vollständigen Text der Rede, die Papst Franziskus am Samstagnachmittag (Ortszeit) in der Schule San José in Asunción, Paraguay, an Vertreter von Staat und Gesellschaft gehalten hat. Die zahlreichen spontanen Ausführungen, mit denen der Papst vom vorbereiteten Text abwich, sind in die Übersetzung eingearbeitet.

Guten Tag! Ich habe hier etwas auf der Basis der Fragen geschrieben, die ich bekommen habe; aber es sind nicht ganz dieselben, die Sie mir gestellt haben. Das, was fehlt, werde ich also im Lauf meiner Rede ergänzen. So werde ich, soweit möglich, meine Meinung zu Ihren Gedanken darlegen können.

Es freut mich, bei Ihnen, den Vertretern der Zivilgesellschaft sein zu können, um diese Träume und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft miteinander zu teilen. Ich danke Bischof Adalberto Martínez Flores, dem Sekretär der Bischofskonferenz von Paraguay, für seinen Willkommensgruß, den er im Namen aller an mich gerichtet hat...

Sie alle zu sehen – ein jeder aus einem Sektor, einer Organisation dieser geschätzten paraguyanischen Gesellschaft mit ihren Freuden, Sorgen, Kämpfen und Bestrebungen –, veranlasst mich, meinen Dank vor Gott zu tragen. Paraguay ist offenbar noch nicht tot, Gott sei Dank! Denn ein Volk, das lebt, ein Volk, das seine Sorgen nicht lebendig im Blick behält, ein Volk, das in der Trägheit eines passiven Hinnehmens lebt, ist ein totes Volk. Im Gegensatz dazu sehe ich bei Ihnen ein Leben voller Saft und Kraft, das keimen und sprießen will. So etwas steht immer unter dem Segen Gottes. Gott ist immer allem günstig gesonnen, das dazu beiträgt, das Leben seiner Söhne und Töchter aufzurichten und zu verbessern. Es gibt Dinge, die schlecht laufen, jawohl. Es gibt ungerechte Situationen, das ist wahr. Sie zu sehen und Sie zu hören hilft mir jedoch, meine Hoffnung auf den Herrn zu erneuern, der fortfährt, inmitten seines Volkes zu handeln. Sie kommen aus unterschiedlichen Anschauungen, Situationen und Wegen der Suche und bilden alle gemeinsam die paraguyanische Kultur. Alle sind notwendig bei der Suche nach dem Gemeinwohl. „In der gegenwärtigen Situation der globalen Gesellschaft, in der es so viel soziale Ungerechtigkeit gibt und immer mehr Menschen ausgeschlossen werden“ (Laudato si‘ 158), ist es ein Geschenk, Sie hier zu sehen. Das ist ein Geschenk, denn bei den Menschen, die eben gesprochen haben, konnte ich den Willen zum Gemeinwohl des Landes spüren.

In Bezug auf die erste Frage hat es mir gefallen, aus dem Mund eines jungen Menschen die Besorgnis zu hören, wie es zu bewerkstelligen ist, dass die Gesellschaft ein Bereich der Geschwisterlichkeit, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Würde für alle ist. Die Jugend ist die Zeit der großen Ideale... Wie wichtig ist es, dass ihr Jugendlichen ... spürt, dass das wahre Glück seinen Weg nimmt über das Ringen um eine brüderlichere Welt! Wie gut ist es, dass ihr Jugendlichen seht, dass Glück und Vergnügen nicht gleichbedeutend sind; das eine ist das Glück und die Freude, die von Gott kommt, das andere ist ein vorübergehendes Glück... Das Glück fordert Einsatz und Hingabe. Ihr seid zu wertvoll..., um wie Betäubte durchs Leben zu gehen! Paraguay hat einen sehr hohen Bevölkerungsanteil an jungen Menschen, und das ist ein großer Reichtum. Darum denke ich, dass das erste, was man tun muss, darin besteht, zu vermeiden, dass diese Kraft, dieses Licht in euren Herzen erlischt, und gegen die zunehmende Mentalität anzugehen, die es als nutzlos und widersinnig ansieht, nach Dingen zu streben, die es wert sind...; sich für etwas zu engagieren, sich für jemanden zu engagieren... Das ist die Berufung der Jugend! Habt keine Angst, alles ins Spiel zu bringen! Habt keine Angst, Euer Bestes zu geben! Bemüht euch nicht, alles vorab zu regeln, um die Erschöpfung, den Kampf zu meiden...!

Allerdings sollt ihr das nicht im Alleingang tun. Versucht, euch auszutauschen, zieht euren Nutzen daraus, das Leben, die Geschichte und die Erzählungen der älteren Menschen und eurer Großeltern zu hören. Nehmt euch viel Zeit, um all das Gute zu hören, das sie euch zu lehren haben. Sie sind die Hüter dieses geistigen Erbes des Glaubens und der Werte, das ein Volk bestimmt und seinen Weg erleuchtet. Findet auch Trost in der Kraft des Gebetes, in Jesus, in seiner täglichen und ständigen Gegenwart. Er enttäuscht nicht. Jesus ist – auf dem Weg über das Gedächtnis eures Volkes – das Geheimnis, warum euer Herz immer fröhlich bleibt auf der Suche nach Geschwisterlichkeit, Gerechtigkeit, Frieden und Würde für alle. Allerdings gibt es die Gefahr, dass das ... reines Lippenbekenntnis bleibt. Nein! Geschwisterlichkeit, Gerechtigkeit, Frieden und Würde sind konkret, sonst nutzen sie nichts! Sie sind alltäglich! Man macht sie täglich! Darum frage ich euch, junge Leute, wie setzt ihr diese Ideale täglich im Konkreten um? ... Ich gestehe, dass mich da manchmal eine gewisse Allergie befällt, ... wenn ich große Reden schwingen höre mit all diesen Worten darin und daran denke, wer da spricht: „Was für ein Lügner!“ ...

Mir hat das Gedicht von Carlos Miguel Giménez gefallen, das Bischof Adalberto Martínez zitiert hat. Ich glaube, es fasst sehr gut zusammen, was ich euch sagen möchte: [Ich träume] von einem Paradies ohne Krieg unter den Brüdern, reich an Menschen mit gesunder Seele und heilem Herzen … und von einem Gott, der ihren neuen Aufstieg segnet. Ja, das ist ein Traum. Und es gibt zwei Garantien: dass der Traum nach dem Erwachen weitergeht und tägliche Realität wird, und dass Gott als Garant unserer Würde als Menschen erkannt wird.

Die zweite Frage bezog sich auf den Dialog als ein Mittel, um einen Plan der Nation zu erstellen, der alle einschließt. Tatsächlich ist der Dialog nicht einfach. Es gibt ja auch dieses Dialog-Theater, das heißt: Wir tun so, als führten wir Dialog, wir spielen Dialog, und dann reden wir unter vier Augen, und das Ganze ist gelöscht. Der Dialog findet am Tisch statt! Wenn ihr im Dialog nicht sagt, was ihr wirklich denkt und fühlt, und nicht dem anderen zuhört und dabei bereit seid, euer Denken zu ändern, dann bringt der Dialog nichts, dann ist er nur ein hübsches Gemälde!

Natürlich stimmt es auch, dass Dialog nicht einfach ist; viele Schwierigkeiten müssen überwunden werden, und manchmal scheint es, als bemühten wir uns, die Dinge noch schwieriger zu machen. Damit es einen Dialog geben kann, bedarf es einer grundlegenden Voraussetzung: einer Identität. Ich denke da an unseren, an den interreligiösen Dialog... Wir treffen uns manchmal, um zu reden, aber jeder redet dabei von seiner Identität aus: Ich bin Buddhist, ich bin Protestant, ich bin orthodox, ich bin katholisch. Jeder benennt seine Identität – seine Identität verhandelt man nicht! Um Dialog zu führen, ist diese grundlegende Voraussetzung nötig. Und was ist die Identität in einem Land (wir sprechen hier vom sozialen Dialog), die Vaterlandsliebe? Zuerst das Vaterland, und danach verhandle ich. Zuerst das Vaterland! Das ist die Identität, von dieser Identität aus kann ich in einen Dialog treten... Das Gemeinwohl wird von unseren Unterschieden ausgehend gesucht, indem man immer die Möglichkeit zu neuen Alternativen gibt. Das heißt: Suche etwas Neues... Gemeinsam diskutieren, über eine bessere Lösung für alle nachdenken. Oft sieht sich diese Kultur der Begegnung in den Konflikt verwickelt... Das ist logisch und vorhersehbar, denn wenn ich auf diese Weise denke und ihr hingegen auf die andere Weise, dann kommt es zum Konflikt. Wir dürfen das nicht fürchten! Wir dürfen den Konflikt auch nicht ignorieren... Das bedeutet bereit zu sein, „den Konflikt zu erleiden, ihn zu lösen und ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses zu machen“ (Evangelii gaudium 227)... „Die Einheit steht über dem Konflikt” (ebd., 228)...: eine Einheit, welche die Unterschiede nicht zerschlägt, sondern sie in Gemeinschaft lebt durch die Solidarität und das Verständnis. Indem wir versuchen, die Gründe des anderen, seine Erfahrung zu hören und seine Wünsche, werden wir sehen können, dass es großenteils gemeinsame Bestrebungen sind. Und dies ist die Basis der Begegnung: Wir alle sind Geschwister, Kinder ein und desselben himmlischen Vaters, und jeder hat mit seiner Kultur, seiner Sprache, seinen Traditionen der Gemeinschaft viel zu geben... Die wahren Kulturen sind niemals in sich selbst verschlossen, sonst sterben sie! Sondern sie sind berufen, anderen Kulturen zu begegnen und neue Wirklichkeiten zu schaffen... Ohne diese wesentliche Voraussetzung, ohne diese Grundlage der Brüderlichkeit wird es sehr schwierig sein, zum Dialog zu gelangen. Wenn jemand meint, dass es Personen, Kulturen, Situationen zweiter, dritter oder vierter Klasse gibt, wird etwas sicher schlecht ausgehen, denn es fehlt ihm einfach das Minimum, die Anerkennung der Würde des anderen. Möge es keine Menschen zweiter, dritter oder vierter Klasse geben: Alle sind auf einer Linie!

Und das gibt mir Anlass, auf die in der dritten Frage geäußerte Beunruhigung zu antworten: die Klage der Armen aufnehmen, um eine inklusivere Gesellschaft aufzubauen. Es ist schon seltsam: Der Egoist schließt sich aus. Wir wollen andere einschließen. Denken Sie an das Gleichnis vom verlorenen Sohn... sein Vater erwartete ihn. Das ist ein Bild für Gott, der immer auf uns wartet. Und als er ihn kommen sieht, umarmt er ihn und feiert ein Fest! Der andere Sohn hingegen, der zu Hause geblieben war, ärgert sich und schließt sich selbst aus...

Ein grundlegender Aspekt, um die Armen zu fördern, liegt in der Art und Weise, wie wir sie sehen. Nicht dienlich ist eine ideologische Sichtweise, die sie am Ende zugunsten anderer politischer oder persönlicher Interessen gebraucht (vgl. Evangelii gaudium 199). Ideologien gehen schlecht aus, sie nützen nichts. Ideologien haben eine unvollständige oder kranke oder schlechte Beziehung zum Volk. Sie nehmen das Volk nicht wirklich wahr. Denken Sie an das letzte Jahrhundert! Wohin münden die Ideologien? In Diktaturen: immer! Sie denken für das Volk, sie lassen nicht das Volk selbst denken... Alles für das Volk, aber nichts mit dem Volk – das sind die Ideologien.

Um tatsächlich das Wohl der Armen zu suchen, muss man zuallererst eine wirkliche Sorge um ihre Person haben, sie in ihrer eigenen Güte würdigen. Eine wirkliche Würdigung verlangt aber, bereit zu sein, von ihnen zu lernen. Die Armen haben uns in Bezug auf Menschlichkeit, Güte und Opfer viel zu lehren. Wir Christen haben außerdem einen noch bedeutenderen Grund, die Armen zu lieben und ihnen zu dienen: In ihnen sehen wir das Antlitz und den Leib Christi, der arm wurde, um uns mit seiner Armut reich zu machen (vgl. 2 Kor 8,9). Die Armen sind der Leib Christi! ... Den Armen respektieren. Ihn nicht als Objekt benutzen, um unsere Sünden reinzuwaschen. Von den Armen lernen, von dem was sie sagen, von dem, was sie haben – den Werten, die sie haben...

Sicher ist es für ein Land sehr notwendig, für Wirtschaftswachstum und Wohlstand zu sorgen und dafür, dass dies alle Bürger erreicht, ohne dass irgendjemand davon ausgeschlossen bleibt. Die Schaffung dieses Wohlstands muss immer auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein und nicht auf das einiger weniger. Und in diesem Punkt muss Klarheit herrschen. „Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht“ (Evangelii gaudium 55). Die Personen, die berufen sind, die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, haben die Aufgabe, darüber zu wachen, dass dies immer ein menschliches Gesicht hat. Der wirtschaftliche Fortschritt muss ein menschliches Antlitz haben! Nein zur Wirtschaft ohne Gesicht!

In ihren Händen liegt die Möglichkeit, vielen Menschen eine Arbeit anzubieten und auf diese Weise vielen Familien eine Hoffnung zu geben. Das Brot nach Hause zu bringen, den Kindern Wohnung, Gesundheit und Bildung zu bieten, sind wesentliche Aspekte der menschlichen Würde, und die Unternehmer, die Politiker und die Ökonomen müssen in Bezug auf diese Aspekte Rede und Antwort stehen. Ich bitte Sie, nicht einem götzendienerischen Wirtschaftsmodell nachzugeben, das es nötig hat, auf dem Altar des Geldes und der Rentabilität Menschenleben zu opfern. In der Wirtschaft, im Unternehmertum und in der Politik steht an erster Stelle der Mensch und die Umgebung, in der er lebt.

Zu Recht ist Paraguay in aller Welt bekannt als das Land, in dem die „Reduktionen“ begannen, eine der interessantesten Erfahrungen von Evangelisierung und Gesellschaftsstruktur in der Geschichte. In ihnen war das Evangelium die Seele und das Leben der Gemeinschaften, in denen es weder Hunger, noch Arbeitslosigkeit, noch Analphabetismus noch Unterdrückung gab. Diese historische Erfahrung lehrt uns, dass eine menschlichere Gesellschaft auch heute möglich ist... Sie ist möglich! Wenn Liebe zum Menschen vorhanden ist und der Wille, ihm zu dienen, ist es möglich, Bedingungen zu schaffen, so dass alle Zugang zu den notwendigen Gütern erhalten, ohne dass irgendjemand ausgesondert wird...

Es ist eine große Freude, die Vielzahl und die Verschiedenheit der Vereinigungen zu sehen, die beim Aufbau eines immer besseren und wohlhabenderen Paraguay engagiert sind... Wie eine große Symphonie, jeder mit seiner Besonderheit und seinem eigenen Reichtum, aber auf der Suche nach der endgültigen Harmonie. Das ist es, was zählt. Und haben Sie keine Angst vor dem Konflikt, sondern reden Sie miteinander und suchen Sie eine Lösung!

Lieben Sie Ihre Heimat, Ihre Mitbürger, und vor allem lieben Sie die Ärmsten! So werden Sie vor der Welt ein Zeugnis dafür sein, dass ein anderes Entwicklungsmodell möglich ist. Ich bin angesichts Ihrer Geschichte davon überzeugt, dass Sie die größte Kraft besitzen, die es gibt: Ihre Menschlichkeit, Ihren Glauben und Ihre Liebe... Ich bitte die Jungfrau von Caacupé, unsere Mutter, Sie zu behüten, zu beschützen und Sie in ihren Anstrengungen zu unterstützen. Gott segne Sie, und beten Sie für mich! Danke.

(rv 12.07.2015 sk)








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