2015-06-05 08:59:00

Bosnien kann einen Brückenbauer gut gebrauchen


 Wenigstens geschossen wird nicht: Aber ansonsten ist gar nichts in Ordnung in Bosnien-Herzegowina, auch zwanzig Jahre nach dem nominellen Kriegsende nicht. Der Papst, der am Samstag über Tag Sarajewo besuchen wird, kommt in ein zerrissenes Land, sagt der bosnische Militärbischof Tomo Vukšić im RV-Interview. „Für uns katholische Bischöfe ist der Friede, der heute in Bosnien-Herzegowina herrscht, ein ungerechter Friede. Gott sei Dank gibt es keinen Krieg mehr, es wird nicht mehr geschossen, es gibt keine Todesopfer, und das ist ein großes Geschenk der Vereinbarungen von Dayton. Aber was dort festgelegt wurde, garantiert nicht allen Bürgern gleichermaßen den Zugang zu den sozialen Gütern – darunter verstehe ich das politische, das kulturelle, das universitäre Leben, auch den Zugang zu den Medien.“ Tatsächlich hat das Abkommen von Dayton 1995 ein ausgesprochen künstliches, labiles Gebilde geschaffen. Es soll die drei Kräfte in Bosnien austarieren: Bosniaken, Serben und Kroaten, oder anders gesagt Muslime, Orthodoxe und Katholiken. Tatsächlich wurde der Krieg aber im wesentlichen nur eingefroren, die tieferliegenden Differenzen bestehen weiter.  

„Es ist vor allem der kroatische Teil der Bevölkerung, dem keine Teilhabe (an den sozialen Gütern) garantiert wird; zu 99 Prozent sind das Katholiken. In diesem Sinn hoffen wir, dass die Anwesenheit des Papstes einen Impuls gibt, um die Lage zu verbessern.“ Gleich zu Beginn seiner Visite wird Papst Franziskus mit dem Dreier-Präsidium von Bosnien-Herzegowina sprechen: Vertreter der drei Gruppen, die für das nach Ansicht von Politikwissenschaftlern „komplizierteste Regierungssystem der Welt“ stehen. Immer noch, das kommt dazu, steht das einstige Bürgerkriegsland unter strenger internationaler Aufsicht eines „Hohen Repräsentanten“.

„Im Vergleich zum historischen Besuch von Johannes Paul II. 1997 in Sarajewo sind heute die Wunden des Kriegs nicht mehr auf so tiefgehende Weise zu spüren. Immerhin sind ja zwanzig Jahre ins Land gegangen, und der Wiederaufbau, vor allem der materielle, hat teilweise die Spuren dieses blutigen Konflikts gelöscht. Aber auf spiritueller, psychologischer Ebene, und was die Schaffung einer sozialen Harmonie angeht, ist noch sehr, sehr viel zu tun. In dieser Hinsicht ist der Besuch des Papstes absolut willkommen! Zuerst für uns Katholiken, die wir im Glauben gestärkt werden müssen. Aber dann auch, um den interreligiösen und ökumenischen Dialog zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen zu stärken. Und dann auch in politischer Hinsicht: um eine bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen zu fördern, damit dann auch mal eine stärkere europäische Integration der Region möglich wird.“

Denn das ist das Fernziel, das alle streitenden Parteien in Bosnien-Herzegowina eint: ein Beitritt zur Europäischen Union. Seit 2008 gibt es immerhin ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU. Der Papstbesuch, so hofft der Militärbischof, sorgt vielleicht für den entscheidenden Schwung, damit die Menschen wieder nach vorne schauen – und nicht mehr zurück. „Die katholische Gemeinschaft von Bosnien-Herzegowina leidet heute noch unter den Folgen des Konflikts aus den Neunzigern. Nicht alle wissen, dass ihre Zahl in demographischer Hinsicht durch den Krieg buchstäblich um die Hälfte zurückgegangen ist. Das ist schmerzhaft, die Folgen bekommen wir jeden Tag in unserer Kirche zu spüren. Außerdem trifft die Wirtschaftskrise, die zur Auswanderung in die reicheren westlichen Länder führt, gerade die schwächste soziale Minderheit, nämlich die katholische.“ Aber Bischof Vukšić will nicht nur jammern: „Wir sind Christen! Unsere Aufgabe ist es, Hoffnung zu wecken und für eine bessere Zukunft zu arbeiten. Und das Kommen von Papst Franziskus ist für mich providentiell: Ich sehe in ihm einen Propheten einer besseren Zukunft.“

Der Hass überlebt

Weniger hoffnungsvoll klingt die bosnische Schriftstellerin Enisa Bukvić: „Der Papst wird in Sarajewo einen sozialen Kontext vorfinden, wo leider auch zwanzig Jahre später noch der Hass überlebt. Weil es nie einen wirklichen Prozess der Versöhnung gegeben hat, der auf Gerechtigkeit fussen würde. Die Wunden sind noch offen, die nationalistische Politik nutzt die Spaltungen aus, instrumentalisiert häufig die Gegensätze. Zum Glück gibt es aber auch einen Teil der Bevölkerung, vor allem die Frauen, der für Dialog eintritt. Darum ist das Kommen des Papstes mit seinen positiven Botschaften sehr wichtig für Frieden und Zusammenleben in dieser Region.“

Hass also auf der einen Seite, und eine „multikulturelle Realität, die trotz allem noch überlebt“ auf der anderen Seite. „Es gibt viele gemischte Ehen, und viele seit Generationen gemischte Familien. Aber die Politik nährt weiter die Unterschiede, aus Machtgründen. Der Papst wird hier von allen religiösen Gruppen als sehr positive Figur wahrgenommen. Ich hoffe, dass er vor allem die Katholiken dazu bringt, sich stärker für die Einheit der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina zu engagieren. Ich glaube, wenn Bosnien-Herzegowina in die EU käme, dann wäre der Balkan viel sicherer. Aber die örtlichen Politiker scheinen mir nicht sehr interessiert an diesem Prozess.“

(rv 06.06.2015 sk)








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