2015-04-18 08:43:00

Die Papstwahl 2005 als Audio-Tagebuch


Habemus Papam! Vor zehn Jahren, am 19. April 2005, wurde Benedikt XVI. zum Papst gewählt. Radio Vatikan-Redakteurin Gudrun Sailer hat ihr Audio-Tagebuch von damals durchgehört.

Das Tickern kommt immer wieder. Es ist geradezu das Leitmotiv der Aufnahme (auf Minidisc, ein Glück, dass Radio Vatikan die Abspielgeräte dieser Technik noch heute vorhält). Eineinhalb Stunden ließ ich in aller Stille das Mikrofon mitlaufen, als wir zum nächsten, scheinbar schwarzen Rauch am Petersplatz erst schlenderten, dann rannten. Das Ticken kommt von den Handys, die mein Mikrofon störten. Tausende Leute rund um uns versuchten zu telefonieren. Wir auch. Eine Papstwahl ist ein kommunikativer Akt. Und ein Teil ihres Charmes liegt darin, dass dieser Akt doppelt ist. Er besteht aus zwei voneinander abgeschotteten kommunikativen Zirkeln: die Wahl da drin und der ahnende Austausch da draußen. Ein wahrhaftiges Steinzeit-Medium, eine Rauchsäule, verbindet die beiden Sphären miteinander. Schwarz oder weiß, Ja oder Nein, wie beim Schwangerschaftstest. Wir warten auf den neuen Papst.

19. April 2005, Konklave. Die Kardinäle sind seit gestern in der Sixtinischen Kapelle versammelt, um den Nachfolger des am 2. April verstorbenen Papstes Johannes Paul II. zu wählen. Wir Radio Vatikan-Journalisten haben diesmal keinen Informationsvorsprung. Wie weit sie da drin sind, wissen wir ebenso wenig wie alle anderen. Kein vom päpstlichen Zeremonienmeister erstellter Ablaufplan liegt uns vor, erst recht keine Papstansprache, es gibt keinen Papst. Die letzten Wochen haben wir bei Radio Vatikan damit zugebracht, die uns zugänglichen Informationen in die Sendungen zu verpacken, die wir schon damals in schriftlicher Form als Newsletter verschickten. Eine Webseite hatten wir 2005 noch nicht, unfassbar. Mindestens die Hälfte unserer Arbeit jener Tage bestand darin, das Telefon abzuheben und Interviews zu geben. Zu seltenen, aber wiederkehrenden Anlässen nimmt unser Dienst beim Papst eine Zwitterform an. Wir sind dann nicht nur Journalisten, sondern mit einem Schlag auch gesuchte Fachleute, die ihr über die Jahre erworbenes Nischenwissen mit anderen Medien und damit einer sehr viel größeren Öffentlichkeit teilen.

Das Tickern also, das Telefonieren, das Nachsehen-Gehen. Die bisherigen Rauchsäulen habe ich im Studio über Fernsehen mitverfolgt, nun darf ich zum ersten Mal selber hin. Es ist später Nachmittag. Wir sind zu zweit unterwegs auf der breiten Via della Conciliazione, die zum Petersplatz führt. Mein Begleiter ist der Direktor eines großen süddeutschen Verlagshauses, ein Verwandter meines Chefs Pater Eberhard von Gemmingen. Wir sind schon auf halber Strecke, da sagt der Verleger: „Ich will mich für nichts verbürgen, aber so schwarz wie heute Mittag ist der Rauch diesmal nicht.“ Ich rufe die Kollegen an, die den Rauch groß im TV sehen: keine Verbindung, Tickern im Mikrofon. Links und rechts von uns beginnen jetzt Leute nach vorn zu rennen. Wir rennen mit, es geht nicht anders. „Er ist weiß“, höre ich mich sagen, erstaunt. Gesprächsfetzen sind jetzt auf meiner Aufnahme, Gesänge branden auf.

Der Verleger ist ein hünenhafter Mann, ich nicht, das Gehetze um mich herum macht mich fahrig, weil ich mich eingekesselt fühle. Wir sind schon fast am Oval, da schlägt eine Petersdom-Glocke, und eine Frau neben mir beginnt in einem Tonfall zu kreischen, den ich auch zehn Jahre später nicht hören kann, ohne aggressiv zu werden. Die Glocke sollte zusätzlich zum weißen Rauch schlagen. Falscher Alarm, es war einfach sechs Uhr. Wenig später aber erklingen sie wirklich, die großen, tiefen Petersdom-Glocken. Und dann steigt unbeschreiblicher Jubel auf. Kein Tickern kann solchen Jubel überdecken. „So etwas Schönes habe ich, glaube ich, noch nie erlebt“, sagt der Verleger. Und ich: „Mein Herzschlag steckt mir im Hals.“ Wer ist der neue Papst?

Es ist jetzt dunkel, aber von hinten dringt das gleißende Licht der Fernseh-Scheinwerfer auf den Platz; die Kollegen aus aller Welt sind schon seit mindestens einer halben Stunde auf Sendung und werden nochmals den „papabile“ Nummer eins, Kardinal Ratzinger, im Munde führen. Ich selbst glaube nicht an diese Hypothese: „Wer als Papst ins Konklave geht, kommt als Kardinal wieder heraus“, alte vatikanische Weisheit, oft wiederholt in diesen Tagen. Allerdings: der weiße Rauch kam schon im vierten Wahlgang. Das scheint auf Ratzinger hinzudeuten. Dabei war der Name des bayerischen Kardinals, Präfekt der mächtigen Glaubenskongregation, erst vor drei Monaten auf der Liste der „papabili“ aufgetaucht.

Volle zwanzig Minuten lang schlagen diese festlichsten aller Glocken, dann schwingen sie aus. Niemand weiß, wie lange es noch dauert, bis der neue Papst sich zeigt. Eine von Radio Vatikan erstellte Statistik besagt, so höre ich mich dem Verleger erklären, dass bei den letzten Papstwahlen zwischen Rauch und Balkon 15 bis 25 Minuten vergingen. Die sind längst doppelt verstrichen. Es tickert in der Aufnahme: Der Verleger hat jetzt endlich eine Leitung nach Freiburg und vergewissert sich, dass seine Öffentlichkeitsarbeit noch in Stellung ist. Fünf Pressemeldungen sind vorbereitet, fünf lebende Kardinäle haben Bücher in dem großen süddeutschen Verlag publiziert, nein sechs, aber den sechsten haben sie sicher nicht gewählt, „für den haben wir jetzt nichts vorbereitet”, umschreibt es der Verleger elegant. Leute stehen auf Laternenmasten, Papa-Sprechchöre schallen in den Himmel, die Luft zittert vor Erregung, der ganze große Platz ist Auge und Ohr. Wie laut wären jetzt alle freigelegten Herzschläge auf dem Petersplatz zusammengenommen? So laut wie die Glocken? Warum dauert das eigentlich so lang?

Meine Aufnahme steht auf exakt eine Stunde und 36 Sekunden, als ich mich selbst aus dem Nichts heraus brüllen höre: „Er kommt! Er kommt!“ Ich kann meine Stimme mehr erahnen als wirklich hören, der Jubel rundherum ist betäubend, die Aufnahme komplett übersteuert. Auf der Loggia erscheint der chilenische Kardinal Jorge Medina Estevez. Mit seinem warmen Timbre setzt er auf Italienisch, Spanisch, Französisch und Englisch an: Liebe Brüder und Schwestern! Dann spricht er die lateinische Formel des „Habemus Papam“. Auf das schnell und listig gesprochene Wort „Josephum“ und eine Kunstpause folgt: „Sanctae Romanae Ecclesiae cardinalem – Ratzinger“. Er habe sich den Namen Benedikt XVI. gegeben. „Unglaublich!“ rufen wir uns zu, im Tosen der Menge höre ich das glückliche Lachen des Verlegers. Nun setzt von weither dumpfe Marschmusik ein. Das muss der Moment sein, in dem die Kardinäle auf die Balkone zu den Seiten der Mittelloggia treten.

Die zwei Minuten Applaus, die nun folgen, begleiten den ersten Auftritt des neuen Papstes, der – wie ich aus Erinnerungsbildern weiß, nicht von der Aufnahme – die Wartenden mit einer Geste begrüßt, die zweifellos unvorbereitet ist und deshalb anrührt. Er lächelt und vereint die Hände über dem Kopf wie ein Sport-Champion, unter den Ärmeln der weißen Soutane kommen schwarze Pullover-Bündchen zum Vorschein. Danach spricht er wenige Worte auf Italienisch, die ich dem Verleger jeweils in die Jubelpausen hinein übersetze. Er sei „ein einfacher und demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn“, sagt der neue Papst. „Mich tröstet die Tatsache, dass der Herr auch mit ungenügenden Werkzeugen zu arbeiten und zu wirken weiß.“ Danach vertraut er sich dem Gebet der Gläubigen an und erteilt den Segen.

Wir sind nicht länger schwanger, die Geburt war glücklich. Das Pontifikat des deutschen Papstes Benedikt XVI. beginnt.

(rv 18.04.2015 gs)

Dieser Text ist eine Langfassung der Version für die April-Ausgabe der Zeitschrift „Gemeinsam Glauben”.

 








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