2014-12-11 13:19:00

Frankreich: Der Pfarrer aus der Banlieue und die Terroristen


In Deutschland sympathisieren etwa drei, vier Prozent der Bevölkerung mit den Dschihadisten vom Islamischen Staat. In Großbritannien sind es sieben Prozent. Und in Frankreich? 16 Prozent. Es ist eine schier unglaubliche Zahl, die eine Umfrage vom August zutage gefördert hat. Bei den jungen Franzosen zwischen 18 und 24 Jahren liegt der Anteil der IS-Sympathisanten sogar noch höher: 27 Prozent. Gegenprobe: Die britischen Altersgenossen können nur zu vier Prozent Sympathie für die Terrorgruppe aufbringen.

 

Pfarrer Christian Delorme weiß, was falsch läuft in Frankreich, genauer: in den „Banlieues“. Er arbeitet selbst als Pfarrer in einem solchen Vorort, einer Trabantenstadt im Umland von Lyon. Hier leben viele Muslime, sie kommen aus den früheren französischen Kolonien, viele sind arbeitslos. Eine Ausgangslage, die für wachsenden Antisemitismus, für viel Hass auf die vermeintlich Reichen und Etablierten sorgt.

 

„Die französischen Muslime insgesamt sind sehr beunruhigt über das, was sich im Moment in der muslimischen Welt tut. Und eine überwältigende Mehrheit von ihnen weist mit Abscheu dieses Bild des Islam zurück, diese Realität des Islam, für die der ‚Islamische Staat’ steht. Da gibt es wirklich keinerlei Zweideutigkeiten, sie sind gegen den Terrorismus! Aber gleichzeitig wird die muslimische Welt derzeit von Denkschulen und Situationen der Gewalt durchzogen wie noch nie in ihrer Geschichte. Diese Gewalt richtet sich als allererste gegen die Muslime selbst, aber dann natürlich auch gegen andere.“

 

Delorme engagiert sich schon seit vierzig Jahren im christlich-islamischen Dialog – unter verschärften Bedingungen, Banlieue eben. Eine Erklärung dafür, dass der ‚Islamische Staat’ so eine Anziehungskraft auf junge Franzosen hat, kann aber auch er nicht geben.

 

„Ich wäre da nicht so eilig mit dem Erklären. Man spricht ja von etwa tausend jungen Leuten, die Frankreich in Richtung ‚Islamischer Staat’ verlassen haben, und etwa fünfhundert aus Belgien; einige von ihnen kommen noch nicht einmal von einem islamischen Hintergrund her. Da sind vielleicht sogar getaufte Christen dabei, und spätestens hier versagen doch die Erklärungsversuche. Was man sagen kann, ist, dass es in unseren Ländern eine völlig von der Bahn abgekommene Jugend gibt, die keine Bezugspunkte hat – oder keine Bezugspunkte mehr hat – und die in einem Zustand ist, in dem sie sich auf verrückte und blutige Ideologien einlässt. Wissen Sie, so etwas haben wir auf andere Weise auch in früheren Jahrzehnten erlebt: Rote Brigaden, die RAF in Deutschland. Das sind ein bisschen dieselben Phänomene des Nihilismus: Man will zu etwas nützlich sein, glaubt aber nicht mehr an die Gesellschaften. Man will alles kaputtschlagen, verbrennen, zerstören.“

 

Pfarrer Delorme kennt die schrillen Töne, mit denen Marine Le Pens ‚Front National’ in Frankreich Stimmung gegen Muslime macht. Vor ein paar Tagen war der Geistliche allerdings mit einer Gruppe von Kirchenleuten aus Lyon im Irak – und da haben ihn dortige Christen im Gespräch ebenfalls eindringlich vor Muslimen gewarnt. Das bringt den Seelsorger ins Grübeln.

 

„Da sagen uns Christen aus dem Orient: ‚Ihr macht euch die Lage nicht klar. Ihr habt inzwischen eine sehr starke islamische Bevölkerung in Frankreich – da werdet ihr eines Tages dieselben Schwierigkeiten, ja sogar dieselben Dramen erleben wie die, die wir erlebt haben!’ Das müssen wir schon ernstnehmen, was uns die Christen des Orients sagen. Sie haben das selbst erlebt und erlitten. Mit der muslimischen Welt zusammenzuleben war nie einfach, anders als was einem manchmal so erzählt wird. Wir werden 2015 wieder in den Nahen Osten reisen zum 100. Jahrestag des Völkermords an Armeniern und syrisch-chaldäischen Christen; also, das ist eine sehr schmerzliche Geschichte.“

 

Doch, man muss auf die Christen des Orients hören, sagt Pfarrer Delorme noch einmal. Aber er glaubt dennoch, dass die Realität in Frankreich „eine andere“ ist.

 

Es gibt sichtbare und unsichtbare Muslime

„Vor allem: Die überwältigende Mehrheit der Muslime in Frankreich kommt aus dem Maghreb, und der maghrebinische Islam ist anders als der ägyptische oder irakische. Menschen mit algerischem, marokkanischem und tunesischem Hintergrund haben einen Islam, der schon eine lange Erfahrung mit der Republik hat, auch wenn das teilweise unter dem kolonialen Joch war. Diese Situationen kann man nicht einfach vergleichen. Wir haben dort auch keine Stammes- oder Clan-Gesellschaften, sondern wir haben es mit Menschen zu tun, die schon in der Gesellschaft der Individuen angekommen sind.“

 

Nur dass eben viele Individuen unter Frankreichs jungen Leuten den Schlächtern des ‚Islamischen Staats’ ins Netz gehen. Dass breite Kreise im französischen Katholizismus durchaus mit dem ‚Front National’ sympathisieren, macht die Sache vertrackt. Was tun, Pfarrer Delorme?

 

„Viele Muslime in den Moscheen in Frankreich wünschen sich heute, einmal Christen zu treffen und mit ihnen zu diskutieren. Sie finden aber gar nicht viele Gesprächspartner. Und in einem Moment der Krise versiegt auch bei vielen gutwilligen Muslimen die Gesprächsbereitschaft, sie igeln sich ein. Ich glaube, man muss sich die Realität in unserer Gesellschaft klarmachen. Da gibt es natürlich viele Probleme in den Banlieues, Elendsghettos, Zehntausende von arbeitslosen Jugendlichen, und bei einigen von ihnen Wut, ja Hass. Das stimmt schon. Aber es gibt auch eine Realität der Integration, die man oft nicht wahrnimmt! Die überwältigende Mehrheit der Muslime in Frankreich ist vollkommen integriert, ist voll in die Maschinerie der französischen Gesellschaft integriert. Und diese Muslime sieht man nicht! Es gibt sichtbare und unsichtbare Muslime. Die sind so unsichtbar, dass sie vollkommen das Leben der französischen Republik mitleben – und die stellen den sozialen Frieden bei uns überhaupt nicht in Frage.“

 

(rv 11.12.2014 sk)








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