2014-11-28 09:07:00

Türkei: Rechtlicher Status der Religionsgemeinschaften und verbesserungswürdige Religionspolitik


Die Religionspolitik der Türkei ist „verbesserungswürdig“. Das sagt im Interview mit Radi Vatikan der Türkei Experte der Konrad Adenauer Stiftung, Ottmar Oehring.

 

Herr Oehring, Franziskus erste Visite in der Türkei als Papst steht im Zeichen der Ökumene, sorgt doch aber auch politisch für Aufmerksamkeit – wie sieht die politische Führung der Türkei diesen Besuch wohl, der ja innen- wie außenpolitisch nicht grade in eine ruhige Phase fällt?

 

„Die türkische Regierung sieht natürlich jeden Besuch eines Papstes einigermaßen kritisch, aber gleichzeitig ist sie natürlich auch zufrieden, dass der Papst, wenn er in die Türkei kommt, auch – natürlich zwangsläufig, muss man sagen – der Regierung und dem Staatsoberhaupt seine Aufwartung macht.“

 

Stichwort Religionspolitik der Türkei – nicht wenige Beobachter und auch Kirchenvertreter sagen, dass der Spielraum der Christen in der Türkei unter Ministerpräsident Erdoğan größer geworden ist. Sehen Sie das ebenfalls so? 
 

„Grundsätzlich muss man sagen, dass es natürlich in den Jahren seit 2004, also seit der Zeit der Regierung der AKP, tatsächlich Fortschritte gegeben hat. Es ist aber natürlich immer wichtig, darauf hinzuweisen, was vorher war und was dann geschehen ist. Der Vergleich ist im Grunde genommen das, was einen tatsächlich dann den Hinweis darauf geben kann, ob sich tatsächlich etwas verbessert hat. Und wenn man diesen Vergleich zugrunde legt, dann muss man ganz klar sagen, dass natürlich die Situation vor dem Amtsantritt der Regierung Erdogan und schon seines Vorgängers Abdullah Gül schlechter war als sie heute ist. Das heißt natürlich nicht, dass die Situation heute hervorragend ist.“
 

Sind in der Türkei heute Christen in hohen Positionen zu finden?
 

„Nein, daran hat sich nichts geändert. Es gibt einen einzigen Vertreter der christlichen Minderheit im Parlament, der ist über das Ticket sozusagen der Kurdenpartei ins Parlament gekommen, Erol Dora, ein Istanbuler Rechtsanwalt, der auch für die Kirchen in der Vergangenheit tätig war, anwaltlich. Aber darüber hinaus gibt’s keine Vertreter, weder im Parlament noch in irgendeiner höheren Funktion im Staatsbereich.“
 

Warum sind der konservativen AKP-Partei Reformen in der Religionspolitik offenbar ein Anliegen? 
 

„Das Wichtigste für die AKP ist natürlich zunächst einmal, dass sie die Interessen ihrer eigenen Klientel und damit auch ihre eigenen Interessen auf mehr Freiheit für die Religion – ich will jetzt bewusst nicht sagen Religionsfreiheit, dass sie also diese Möglichkeiten intensivieren will. Und das ihr natürlich tatsächlich in den letzten zehn Jahren auch gelungen, insbesondere wenn man natürlich das Voranschreiten der Möglichkeiten für die islamische Religionsgemeinschaft in der Türkei beobachtet. Im Gleichklang damit hat es natürlich auch gewisse Fortschritte für die Minderheiten, für die religiösen Minderheiten, für die Christen und die Juden gegeben. Auch für einige andere Gruppierungen, wobei man das aber dann im Einzelfall genau sich anschauen muss.“

 

Fortschritte für religiöse Minderheiten

Sie sagen schon so vorsichtig, von Religionsfreiheit kann keine Rede sein. Sind denn Christen in der Türkei Bürger zweiter Klasse?

 

„Das ist schwer zu sagen. Ich würde sagen, das hängt davon ab, in welcher sozioökonomischen Position sich ein Christ befindet. Wir müssen davon ausgehen, dass inzwischen ein Großteil der armen Christen, der Landbevölkerung, das land verlassen hat, aus verschiedenen Gründen. Aus wirtschaftlichen, aber natürlich auch aus politischen Gründen. Insbesondere die Bevölkerung im Südosten der Türkei, die praktisch Mitopfer der Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Staatsmacht und den separatistischen Kurden geworden ist über lange Zeit. Wenn wir uns aber die Christen ansehen in Istanbul und in anderen Ballungszentren, insbesondere jene mit einem guten Einkommen, die im privaten Sektor arbeiten, dann kann man sicher nicht sagen, dass die große Not haben, vor allem auch, dass sie verfolgt wären.“
 

Wie hält es denn die AKP allgemein mit der Religion? Welche Rolle soll die ihrer Ansicht nach spielen?
 

„Da muss man zunächst mal drauf hinweisen, dass natürlich in der Vergangenheit auf Grundlage der türkischen Verfassung, die maßgeblich von der früheren Einheitspartei, Staatspartei, der Republikanischen Volkspartei initiiert worden ist, der Laizismus die Grundlage des politischen Lebens in der Türkei war. Wobei wir hier den Laizismus nicht verwechseln dürfen mit dem Laizismus französischer Prägung, auch wenn er damit immer verglichen wird. Es war im Grunde genommen eigentlich eher der Kampf der Zeitgenossen des Staatsgründers Kemal Atatürk gegen den Islam, gegen die Vorherrschaft des Islam und damit praktisch dann gegen alle Religionen. D.h. sowohl also die religiösen Institutionen des Islam wie natürlich auch die Kirchen sind praktisch Opfer dieser Politik geworden, und es hat sich dann im Laufe der Zeit ein türkischer Nationalismus herausgebildet, der praktisch den Türken definiert hat als einen Menschen türkischer Muttersprache und sunnitischer Religion. Das hat natürlich nichts mehr mit den Ursprüngen der Idee dieses türkischen Nationalismus aus der Atatürk-Zeit zu tun. Aber das hat dann natürlich zu einer Ausgrenzung aller anderen geführt, ethnisch zum Beispiel der Kurden, religiös insbesondere auch der Christen und der Juden.“
 

Komplizierte Rechtsstreitigkeiten

Knackpunkt im Verhältnis zwischen Kirchen und Staat war (bzw. ist) ja in der Türkei die Frage des Kirchen- und Ländereienbesitzes. An welchem Punkt ist man da? 
 

„Da hat’s natürlich Bewegung gegeben, das sind natürlich Verfahren, die kompliziert sind, weil zum Teil die entsprechenden Liegenschaften nicht mehr im Eigentum, im Besitz derjenigen sind, die sie übernommen haben von der Kirche, d.h. der Staat hat manches den Kirchen und auch der jüdischen Gemeinschaft weggenommen und besitzt es aber selbst nicht mehr, weil er es an Dritte veräußert hat. Daraus ergibt sich natürlich schon, dass das komplizierte Fragen sind, die natürlich auch in ihrer Klärung eine gewisse Zeit erfordern. Also insofern hat man zwar einen guten Anfang gemacht, aber man ist zu noch keinem guten Ende gekommen.“
 

Die Syrisch-orthodoxe Kirche ist im Rechtsstreit mit dem Staat um Ländereien ihres bereits im Jahr 396 gegründeten Klosters Mor Gabriel in der südostanatolischen Provinz Mardin...
 

„Mor Gabriel ist natürlich weiter ein Problem, eine offene Wunde, wenn man so will. Aber die türkische Seite hat sich in der Vergangenheit immer darauf bezogen, dass die Türkei ein Rechtsstaat ist und dass das natürlich alles seinen rechtsstaatlichen Gang gehen muss. Das kann man glauben oder nicht. Auf jeden Fall gibt es noch keine endgültige Lösung des Problems.“
 

Dass Erdoğan die Rückgabe verstaatlichten Eigentums an die Religionsgemeinschaften eingeleitet hat, wurde ja in der politischen Liga nicht durchweg begrüßt, nicht wahr? Wie viel politischen Rückhalt hat denn der AKP-Ansatz insgesamt?
 

„Ich denke, dass das natürlich eine Frage ist, die nicht nur bei den Gegnern der Regierung Erdoğan oder seiner Person tatsächlich umstritten ist, sondern ich denke, das ist auch in seiner eigenen Wählerschaft und in seiner Partei, in seinem eigenen Umfeld durchaus Kritiker solcher Entwicklungen gibt, weil dort natürlich auch viele Menschen einfach der Meinung sind: Die Christen sind nur noch eine winzig kleine Minderheit in der Türkei, warum müssen wir ihnen diese ganzen Liegenschaften zurückgeben. Das ist natürlich eine Frage, die man durchaus auch kritisch diskutieren kann.

Auf der anderen Seite ist es natürlich eine Frage, die der Gerechtigkeit entspricht, dass die Kirchen und auch die jüdische Gemeinschaft das zurückbekommen, was ihnen weggenommen worden ist, in gewisser Weise könnte man sogar sagen, was ihnen gestohlen worden ist. Also insofern kann man dann nachher nicht mehr argumentieren, die kriegen jetzt viel zu viel – das ist in der türkischen Öffentlichkeit zum Teil tatsächlich so getan worden, sondern man muss einfach sagen, es herrscht Gerechtigkeit.“
 

Anderer Knackpunkt im Staat-Kirche-Verhältnis ist ja der rechtliche Status der Kirchen in der Türkei. An welchem Punkt ist man da heute? 
 

„Der Knackpunkt ist die Situation aller Religionsgemeinschaften in der Türkei. Keine einzige Religionsgemeinschaft, auch nicht der Islam, hat in der Türkei einen Rechtsstatus, daran muss gearbeitet werden. Und das ist sicher noch eine sehr schwierige Frage, die unter Umständen, zumindest in den Grundsätzen, in einer neuen Verfassung geregelt werden könnte, grundlegend geregelt werden könnte. Dann muss es natürlich noch Ausführungsgesetze geben, soweit ist die Türkei aber noch nicht, da hat man schon lange drauf gehofft, dass es da Bewegung geben würde. Bewegung hat’s auch gegeben, aber Bewegung heißt nicht immer, dass das Ende der Bewegung auch schnell kommt.“

 

Die Stellung der Religion im Staat

Welche Konsequenzen hat das, ganz praktisch gesehen, etwa in punkto Kirchengründung, Kirchenbau, und etwa auch dem Religionsunterricht?
 

„In der Praxis heißt das natürlich zunächst einmal, dass in bestimmten Orten Kirchengebäude oder Gebäude von den Kirchen nicht benutzt werden können und dass sie zum Beispiel auch nicht verkauft werden können zur Finanzierung der Aktivitäten der Kirchen als Institutionen. Darüber hinaus gibt es natürlich auch Fragestellungen wie Religionsunterricht. Da kann man natürlich fragen, wie es mit dem Religionsunterricht in staatlichen Schulen aussehen soll. Es ist klar, dass man natürlich angesichts einer so kleinen Zahl von Christen nicht fordern kann, dass es in jeder staatlichen Schule Religionsunterricht für die sehr, sehr wenigen christlichen oder jüdischen Kinder, die in einer solchen Schule sind, geben wird, aber es muss auf jeden Fall irgendeine Lösung geben.

Und da hat es durchaus positive Entwicklungen in den letzten Jahren gegeben. Dahingehend, dass die Geschichte und auch die Bedeutung der Juden und der Christen, des Judentums und des Christentums, neu bewertet worden ist, in einer verträglicheren Art und Weise als es in der Vergangenheit der Fall war. 
 

Beobachten Sie im Land kleine Schritte hin zu mehr Pluralismus?
 

„Es gibt bei gut 75 Millionen Bürgern gerade noch 70.000 Christen und etwa 15.000 Juden in der Türkei. Da ist es natürlich schwer, Pluralität überhaupt zu lernen. Die erschlagende Mehrheit, zahlenmäßig gesehen, muss sich natürlich mit dieser kleinen christlichen und jüdischen Gruppe im Grunde genommen gar nicht beschäftigen, wenn sie es nicht will. Es gibt auch sehr wenige Orte, wo es tatsächlich noch kirchliches und erst recht jüdisches Leben gibt. Das beschränkt sich im Wesentlichen auf Istanbul, im eingeschränkteren Maße auf Izmir und vielleicht noch Ankara und einige andere Orte im Südosten der Türkei, wenn es um die Christen geht.
 

Eine neue Herausforderung für die Türkei, die in den letzten 20, 25 Jahren auf die Türkei zugekommen ist, ist natürlich auch die Etablierung von Freikirchen, die natürlich auch versuchen dort zu missionieren. Anfangs sehr heftig, sehr aggressiv, mit großem Erfolg, der dann aber auch schnell in sich zusammengebrochen ist. Heute sind es evangelikale Kirchen, die mit großer Sorgfalt und sehr umsichtig vorgehen, und die an einigen Orten durchaus auch zarte Erfolge verzeichnen konnten. Tatsächlich wird auch berichtet, dass einzelne zum Christentum konvertierten ursprünglich muslimischen Staatsbürger der Türkei das nicht nur überlebt haben, sondern faktisch auch damit umgehen können in ihrem Umfeld, aber das ist natürlich weiterhin noch ein sehr schwieriges Thema, denn grundsätzlich würde natürlich die Mehrheit der türkischen Bevölkerung davon ausgehen, dass das nicht sein darf.“

 

 

Die Fragen stellte unsere Korrespondentin Anne Preckel.
 
(rv 27.11.2014 pr)








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