2014-11-20 09:50:00

Papst Franziskus und die Soziallehre: Ergreift die Initiative!


Videobotschaft von Papst Franziskus an das Festival der kirchlichen Soziallehre, Verona, in der Arbeitsübersetzung von Radio Vatikan

 

Liebe Freunde,

 

einen herzlichen Gruß euch allen, die ihr an der vierten Ausgabe des Festivals der kirchlichen Soziallehre teilnehmt, das in diesem Jahr unter dem Thema steht „Jenseits der Orte in der Zeit“. Dieser Titel gibt mir Anlass zur Reflexion.

 

Mein erster Gedanke betrifft das gehen über etwas hinaus. Die Situation der sozialen und ökonomischen Krise, in der wir und befinden, mag uns erschrecken, uns die Orientierung nehmen oder und zu dem Schluss kommen lassen, dass die Lage so schwer ist dass wir eh nichts machen können. Die große Versuchung ist, stehen zu bleiben und seine eigenen Wunden zu versorgen und darin dann die Entschuldigung dafür zu suchen, dass man den Schrei der Armen nicht hört und das Leiden dessen nicht sehen, der seine Würde verloren hat, weil er durch den Verlust seiner Arbeit kein Brot mehr nach Hause bringen kann. Und diejenigen, die sich nur um die eigenen Wunden kümmern, enden im Selbstmitleid. Das ist die Falle. Die Gefahr ist, dass die Gleichgültigkeit uns blind, taub und stumm macht, dass wir nur für uns selbst da sind, vor uns ein Spiegel, und dass für uns nur das Äußerliche zählt: Frauen und Männer, in sich selbst gefangen. Es gab da mal jemanden, der hieß Narziss … Nein, nicht auf diesem Weg.

 

Wir sind gerufen, über uns hinaus zu gehen und auf wirkliche Bedürfnisse zu reagieren. Wir müssen dringend die sichern und abgesicherten Orte verlassen, um die ganze verborgene oder unbekannte Energie frei zu setzen, die sehr konkret handelt. Die christliche Ethik ist keine Zollstation für die Pluralität der Ausdrucksweisen, mit denen sich das Gute und die Sorge um den nächsten zeigen. Über etwas hinaus zu gehen heißt erweitern, nicht beschränken, heißt Räume schaffen und sich nicht ihrer Kontrolle überlassen. Es wäre wunderbar, wenn die vielen Bäche des Guten zusammenfließen würden in einen großen Fluss, dessen Wasser die Trockenheit überwindet und neue Fruchtbarkeit bringt und so unser Leben und diese Zeit wieder strahlen lässt und schön und liebenswert macht. Über etwas hinaus zu gehen bedeutet das Gute zu befreien und sich seiner Früchte erfreuen.

 

Um über etwas hinaus gehen zu können, ist es nötig, die Initiative zu ergreifen. Ich weiß, dass beim Festival der Wirtschaft, den Unternehmern, den Firmen und Kooperativen weiter Raum geboten wird. Heute muss man auf dem Gebiet der Wirtschaft die Initiative ergreifen, denn das System tendiert dazu, alles gleich zu machen. Und wer ist der Herr dieser Gleichmacherei? Das ist das Geld. In diesem Umfeld die Initiative zu ergreifen bedeutet, den Mut zu haben, sich vom Geld und kurzfristigen Ergebnissen nicht gefangen nehmen zu lassen und so ihr Sklave zu werden. Es gibt einen neuen Weg, die Dinge zu sehen!

 

Ich mache ein Beispiel: Man sagt heute gerne, dass man viele Dinge nicht machen kann, weil das Geld fehlt. Trotzdem gibt des immer Geld, um das eine zu tun, aber es fehlt dann für das andere. Zum Beispiel gibt es genug Geld, Waffen zu kaufen, um Krieg zu führen, um skrupellose Finanzgeschäfte zu machen, dafür gibt es Geld. Darüber schweigt man nur; man betont, dass viel Geld fehlt um Arbeitsplätze zu schaffen, in Bildung zu investieren, in die Talente und Fähigkeiten, um einen Sozialstaat zu schaffen, um die Umwelt zu schützen. Das wirkliche Problem ist aber nicht das Geld, sondern das sind die Menschen: Wir können vom Geld nicht verlangen das zu tun, was nur Menschen tun oder schaffen können. Das Geld kann keine Entwicklung schaffen, um Entwicklung zu schaffen braucht es Menschen, die den Mut haben, die Initiative zu ergreifen.

 

Die Initiative zu ergreifen bedeutet, eine Firma so weiter zu entwickeln, dass sie Innovationen schafft, die nicht nur technisch sind; es ist nötig, auch die Beziehungen am Arbeitsplatz zu erneuern durch neue Formen der Partizipation und der Verantwortung der Arbeiter oder durch neue Weise, an der Welt der Arbeit teilnehmen zu können. So schafft man solidarische Beziehungen zwischen der Firma und der Gesellschaft. Die Initiative zu ergreifen bedeutet, die Ausuferungen des Wohlfahrtsstaates zu überwinden.

 

Diese Zeit intensiv zu leben bringt es mit sich, auf eine andere Zukunft und eine andere Welt zu setzen, um die Probleme zu lösen. Auch hier möchte ich Ihnen ein Beispiel nennen. Man hat mir von einem Vater berichtet, der einen autistischen Sohn hat. Für diesen Sohn hat der Vater alles getan und hat alle Dienste in Anspruch genommen, sie von Seiten des Staates und öffentlicher Einrichtungen angeboten werden. Aber er war nicht zufrieden. Für seinen Sohn wollte er etwas, was ihm mehr Würde und mehr Unabhängigkeit gab. Und so hat er eine Kooperative von autistischen Jugendlichen gegründet, hat Arbeit für sie gefunden, hat einen Vertrag mit einer Firma abgeschlossen, die die Produkte verkauft … . Also, er hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sein Sohn seine eigene Zukunft und seine eigene gesunder Unabhängigkeit schaffen konnte. Das ist ein Beispiel für über etwas hinaus gehen.

 

Stehen bleiben bedeutet, immer nur den Staat oder andere Institutionen um Hilfe zu bitten, sich bewegen bedeutet neue Prozesse zu beginnen. Und hier ist das Geheimnis: Neue Prozesse zu beginnen und nicht bitten, dass man dir noch mehr gibt. Diese neuen Prozesse sind nicht Ergebnis von technischen Entwicklungen, sondern Ergebnis einer Liebe, die angeregt durch die Situation sich nicht zufrieden gibt bis sie nicht etwas gefunden hat und eine Antwort hat.

 

Die Initiative zu ergreifen bedeutet auch, die Liebe als wirkliche Kraft der Veränderung zu begreifen. Seine eigene Arbeit lieben, in den Schwierigkeiten da zu sein, beteiligt zu sein und verantwortlich zu handeln bedeutet, die Liebe wirken zu lassen, die jeder von uns im Herzen hat weil der Geist sie uns geschenkt hat. Die Initiative zu ergreifen bedeutet die Antwort des „etwas mehr“ zu geben, die typisch ist für die Liebe.

 

Wenn wir in der Zeit mit diesem gewissen etwas mehr sind, diesem etwas mehr der Liebe, dann beginnen wir etwas Neues, was das Wachsen des Guten begünstigt. In dieser Vision der Wirklichkeit wird es sozusagen ganz natürlich, die Talente zu fördern und zu entwickeln. Wir sind gerufen, den Ausdruck und das Wachsen der Talente zu fördern und dazu, neue Räume zu öffnen. Nicht Räume kontrollieren, sondern sie öffnen. Es geht darum, die Möglichkeiten, das Wissen und die Fähigkeiten, mit denen die Menschen beschenkt sind, kreisen zu lassen. Die Begabungen zu befreien ist der Beginn des Wandels; dieses Handeln überwindet den Neid, die Eifersucht, die Rivalität, den Widerspruch, das Abschließen, das Abschließen durch Vorurteile. Es öffnet für eine Freude, für eine Freude am Neuen.

 

Wenn wir über Begabungen sprechen, müssen wir selbstverständlich betonen, dass es hier vor allem um die Jugend geht. Wenn wir über etwas hinaus gehen wollen, dann müssen wir entschieden auf sie setzen und ihnen viel Vertrauen gegenüber bringen. Aber ich frage mich: Was ist die Prozentzahl der Jugendlichen heute, die keine Arbeit haben? Bedeutet das hinaus zu gehen, oder einen Rückschritt?

 

Um sich zu ändern müssen wir gemeinsam in die gleiche Richtung gehen. Jeder kann sich fragen: „Über etwas hinaus gehen, die Initiative zu ergreifen, Räume zu schaffen, aktiv werden, schafft das nicht Verwirrung?“ Wir finden die Antwort darauf in der Idee der Zeit, wie sie die Bibel berichtet: Die Zeit der Gnade und der Fülle. Über die Orte hinaus zu gehen ist nicht das Ergebnis eines persönlichen Zufalls, sondern des Teilens eines gemeinsamen Zieles: Die Geschichte ist eine Wegstrecke hin zur Erfüllung. Wenn wir uns als ein Volk auf den Weg machen, wenn wir gemeinsam gehen, dann zeigt unser Leben diese Bedeutung und diese Fülle.

 

Ich möchte damit schließen, jeden von Ihnen herzlich zu Grüßen. Ich nutze die Gelegenheit, dem Bischof von Verona zu danken, der diese wunderbare Initiative aufgenommen hat und ich drücke meinen großen Dank an Don Vincenzi aus, der auch in diesem Jahr wieder das Festival der Soziallehre organisiert hat. Ich wünsche allen, in dieser Aufgabe, ein neues soziales Gewissen zu formen, voranzugehen. Und ich bitte alle, für mich zu beten. Ich segne Sie.

 

(rv 20.11.2014 ord)








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