Debatte über Suizid: Chancen der Palliativmedizin verkannt
Wie viel Hilfe darf
beim Sterben erlaubt sein? Über diese Frage debattiert an diesem Donnerstag der Deutsche
Bundestag mit Blick auf eine Reform der Sterbehilfe im kommenden Jahr. Es herrscht
immer noch viel Unwissen über die Chancen und Möglichkeiten der Palliativmedizin:
Viele schwer kranke Menschen sehen nur in der Selbsttötung einen Ausweg aus ihrem
Leiden. Auf dieses Dilemma weist im Interview mit Radio Vatikan Andreas Müller- Cyran
hin. Er ist Leiter der katholischen Notfallseelsorge im Erzbistum München. Er mache
immer öfter die Erfahrung, dass Menschen sich das Leben nähmen, die eine terminale
oder schwere Krebserkrankung haben, so Müller- Cyran:
„Wir haben den Eindruck
in diesen Situationen, dass die Menschen sich das Leben nehmen, weil sie ein Stück
ihrer Selbstständigkeit verlieren oder stärker von der Pflege abhängig werden, und
dann innere Bilder davon haben, die für sie offensichtlich so unerträglich sind, dass
sie keinen anderen Weg finden als die Selbsttötung. Wir empfinden es als sehr schmerzhaft,
dass Menschen zum Teil nicht informiert sind. Die Palliativmedizin bietet, wenn sie
auch nicht das ganze Leid beseitigen kann, doch sehr gute Möglichkeiten, Menschen
auch in schweren Krankheitsverläufen beizustehen und dafür zu sorgen, dass sie ihre
Würde als sterbende Menschen behalten.“
Müller- Cyran würde sich eine bessere
Aufklärung über Palliativmedizin wünschen. Menschen sollten genau über ihren Krankheitsverlauf
informiert werden und wissen, dass sie mit ihrer Krankheit und auf dem Weg des Sterbens
nicht alleine gelassen werden. In den letzten Jahren nähmen sich in Deutschland zunehmend
ältere Männer das Leben, die keinen anderen Ausweg sähen, referiert der Notfallseelsorger.
Insgesamt töteten sich in Deutschland pro Jahr im Durchschnitt 14 von hunderttausend
Menschen selbst. Sein Eindruck sei, dass es immer mehr Selbsttötungen aus Verzweiflung
gebe, so Müller- Cyran. Mit dem Suizid reiße aber die Verzweiflung nicht ab, erinnert
er mit Blick auf die Angehörigen:
„Viele Hinterbliebene formulieren das
nach Selbsttötungen (ihrer Angehörigen) selber so: ,Er hat nicht nur
sich das Leben genommen, er hat auch uns ein Stück weit das Leben genommen.‘ Und darauf
versuchen wir in der Seelsorge einen klaren Akzent zu setzen. Wir als Angehörige in
solchen Situationen haben kaum Möglichkeiten das zu verhindern...“
Fatal: Wenn Abhängigkeit nur als Last gesehen wird
Der
liberale Denkansatz „Ich möchte mein Leben in größter Fülle erleben und ihm ein Ende
bereiten, wenn es nicht mehr diese Fülle hat“ macht Müller-Cyran große Sorgen. Diese
Sichtweise könne Druck auf Menschen in schwierigen Lebenslagen ausüben, ihrem Leben
ein Ende zu bereiten, warnt der Seelsorger. Die Abhängigkeit von anderen werde hier
zur unerwünschten Last:
„Dahinter steht auch immer die Kehrseite der Medaille:
Menschen, die in einer schwierigen Situation sind, in der sie abhängig,
auf andere angewiesen sind, müssen dann argumentieren, warum sie sich denn nicht das
Leben nehmen.“
Müller-Cyran sieht aufgrund seiner langjährigen Erfahrung,
dass Menschen prinzipiell besser damit umgehen können, wenn der Abschied natürlich
verläuft. Erst unlängst wollte eine Familie den schwer erkrankten Familienvater mit
Sterbehilfe in der Schweiz verabschieden. Schließlich sei sie jedoch in Deutschland
geblieben, erzählt Müller-Cyran:
„Der Mann ist vor einigen Wochen auf der
Palliativstation hier in München gestorben, und das war sowohl für ihn
im Sterben als auch für seine Frau und die beiden jugendlichen Kinder eine wichtige
Erfahrung. Für sie war das ein Durchgang der Verzweiflung, daran zu denken,
das Leben durch einen Sterbehilfeverein in der Schweiz zu beenden. Durch eine Auseinandersetzung
und Gespräche mit den Ärzten haben sie sich (letztlich) für den Weg entschieden, der
einen intensiven und menschenwürdigen Abschied ermöglichte.“