«Es ist nicht vorhersagbar, was in einem Monat sein wird» Lateinischer Patriarch
von Jerusalem zu den jüngsten Unruhen
Von Andrea Krogmann (KNA)
Nach der Erschießung eines arabisch-israelischen
Jugendlichen in Kana durch die israelische Polizei am Freitag ist die Lage in der
Region weiter angespannt. Für Sonntag haben Israels Araber zu einem Generalstreik
aufgerufen. Nach Einschätzung des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Fouad Twal,
ist auch in Jerusalem die Lage nach den jüngsten Unruhen rund um den Tempelberg unübersichtlich.
Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) bekundete das Oberhaupt
der lateinischen Katholiken im Heiligen Land seine Solidarität mit den Muslimen und
unterstützte den Schutz ihrer Heiligtümer.
KNA: Patriarch Twal, die Lage im
Land, insbesondere in Jerusalem, ist sehr angespannt. Nach Ihrer Einschätzung - wie
geht das in den nächsten Wochen weiter? Wird die Situation weiter eskalieren?
Twal:
Ich weiß es nicht, alles ist möglich. Was wir für heute voraussagen, gilt bereits
morgen nicht mehr, derart schnell ändert sich die Lage hier. Die Reaktionen sind heftig,
alles verändert sich sehr schnell, so dass es schwierig ist, vorherzusehen, was in
einem, zwei Monaten passieren wird. Nehmen wir das Brotvermehrungsfest in Tabgha als
Beispiel. In diesem Jahr sind deutlich weniger arabische Gläubige gekommen als in
früheren Jahren, und zwar, weil sie nicht bis Tabgha durchgekommen sind. Nach der
Erschießung des jungen Palästinensers gibt es Straßensperren in der Region sowie einen
Totalstreik.
KNA: Ein Blick in die Nachbarländer Syrien und Irak weckt auch
nicht gerade Hoffnung für eine Entspannung der Lage.
Twal: Überall rundherum
ist die Lage schlecht. Allerdings interessiert sich die Weltöffentlichkeit nicht für
uns, die gesamte Aufmerksamkeit ist auf den «Islamischen Staat» (IS) in Syrien und
im Irak gerichtet, obwohl die Situation hier unverändert schlecht ist.
KNA:
Muslime beklagen vermehrte israelische Übergriffe auf ihre Heiligtümer in Jerusalem.
Wäre es nicht an der Zeit, sich als Christen aktiv für den Schutz der muslimischen
Stätten einzusetzen, ähnlich wie Muslime in Ägypten christliche Kirchen vor extremistischen
Übergriffen geschützt haben?
Twal: Sie haben Recht. Wir gedenken, in den kommenden
Tagen zusammen mit den Kirchenführern und muslimischen Führern den Tempelberg zu besuchen,
um unsere Solidarität zu zeigen und unsere Position zu unterstreichen. Es ist eine
kleine Geste der Zusammenarbeit und des Verständnisses. Leider fehlt auf jüdischer
Seite das Verständnis für die muslimische Sensibilität für die heiligen Stätten.
Wenn man umgekehrt fanatische Muslime an eine jüdische Gebetsstätte schickte, wäre
das das Ende der Welt. Es ist bedauerlich, dass es immer zu diesem Unverständnis und
dieser Angriffshaltung kommt. Kann man den anderen in Gottes Namen nicht in Frieden
lassen?
KNA: Zusammen mit den Kirchenführern Jerusalems haben Sie vor kurzem
dazu aufgerufen, die bestehenden Regelungen an den Heiligen Stätten, den sogenannten
Status Quo, zu beachten, um nicht fragile Situation zusätzlich zu gefährden. Wäre
es nicht stattdessen an der Zeit, sich aktiv für eine bessere Lösung einzusetzen,
statt an Regeln festzuhalten, die offensichtlich immer wieder zu Konfrontationen führen?
Twal:
Wenn wir nicht einmal in der Lage sind, den gegenwärtigen Status Quo zu respektieren,
wie sollen wir zu einer neuen Regelung gelangen? Die Frage ist nicht der Status Quo,
die Frage ist der gute Wille, die Frage, ob zum Beispiel Juden das Verbot, auf dem
Tempelberg zu beten, respektieren wollen oder nicht. Wenn wenigstens solche Vorgaben
beachtet würden, wäre viel erreicht. Aber diesen guten Willen gibt es nicht, absolut
nicht.
Was das christliche Engagement angeht, müssen wir leider sagen, dass
nicht alle Kirchenführer sich trauen, diese Fragen anzusprechen. Unsere gemeinsamen
Stellungnahmen sind daher immer ein etwas blasser Kompromiss, um allen gerecht zu
werden. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, das reicht nicht. Man muss sich engagieren
und den Mut haben, die Sachen klar auszusprechen. Nur hat das Konsequenzen, Reaktionen
von jüdischer und anderer Seite, die nicht alle zu tragen bereit sind.