2014-11-09 16:00:34

«Es ist nicht vorhersagbar, was in einem Monat sein wird»
Lateinischer Patriarch von Jerusalem zu den jüngsten Unruhen


Von Andrea Krogmann (KNA)

Nach der Erschießung eines arabisch-israelischen Jugendlichen in Kana durch die israelische Polizei am Freitag ist die Lage in der Region weiter angespannt. Für Sonntag haben Israels Araber zu einem Generalstreik aufgerufen. Nach Einschätzung des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Fouad Twal, ist auch in Jerusalem die Lage nach den jüngsten Unruhen rund um den Tempelberg unübersichtlich. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) bekundete das Oberhaupt der lateinischen Katholiken im Heiligen Land seine Solidarität mit den Muslimen und unterstützte den Schutz ihrer Heiligtümer.

KNA: Patriarch Twal, die Lage im Land, insbesondere in Jerusalem, ist sehr angespannt. Nach Ihrer Einschätzung - wie geht das in den nächsten Wochen weiter? Wird die Situation weiter eskalieren?

Twal: Ich weiß es nicht, alles ist möglich. Was wir für heute voraussagen, gilt bereits morgen nicht mehr, derart schnell ändert sich die Lage hier. Die Reaktionen sind heftig, alles verändert sich sehr schnell, so dass es schwierig ist, vorherzusehen, was in einem, zwei Monaten passieren wird. Nehmen wir das Brotvermehrungsfest in Tabgha als Beispiel. In diesem Jahr sind deutlich weniger arabische Gläubige gekommen als in früheren Jahren, und zwar, weil sie nicht bis Tabgha durchgekommen sind. Nach der Erschießung des jungen Palästinensers gibt es Straßensperren in der Region sowie einen Totalstreik.

KNA: Ein Blick in die Nachbarländer Syrien und Irak weckt auch nicht gerade Hoffnung für eine Entspannung der Lage.

Twal: Überall rundherum ist die Lage schlecht. Allerdings interessiert sich die Weltöffentlichkeit nicht für uns, die gesamte Aufmerksamkeit ist auf den «Islamischen Staat» (IS) in Syrien und im Irak gerichtet, obwohl die Situation hier unverändert schlecht ist.

KNA: Muslime beklagen vermehrte israelische Übergriffe auf ihre Heiligtümer in Jerusalem. Wäre es nicht an der Zeit, sich als Christen aktiv für den Schutz der muslimischen Stätten einzusetzen, ähnlich wie Muslime in Ägypten christliche Kirchen vor extremistischen Übergriffen geschützt haben?

Twal: Sie haben Recht. Wir gedenken, in den kommenden Tagen zusammen mit den Kirchenführern und muslimischen Führern den Tempelberg zu besuchen, um unsere Solidarität zu zeigen und unsere Position zu unterstreichen. Es ist eine kleine Geste der Zusammenarbeit und des Verständnisses. Leider fehlt auf jüdischer Seite das Verständnis für die muslimische Sensibilität für die heiligen Stätten. Wenn man umgekehrt fanatische Muslime an eine jüdische Gebetsstätte schickte, wäre das das Ende der Welt. Es ist bedauerlich, dass es immer zu diesem Unverständnis und dieser Angriffshaltung kommt. Kann man den anderen in Gottes Namen nicht in Frieden lassen?

KNA: Zusammen mit den Kirchenführern Jerusalems haben Sie vor kurzem dazu aufgerufen, die bestehenden Regelungen an den Heiligen Stätten, den sogenannten Status Quo, zu beachten, um nicht fragile Situation zusätzlich zu gefährden. Wäre es nicht stattdessen an der Zeit, sich aktiv für eine bessere Lösung einzusetzen, statt an Regeln festzuhalten, die offensichtlich immer wieder zu Konfrontationen führen?

Twal: Wenn wir nicht einmal in der Lage sind, den gegenwärtigen Status Quo zu respektieren, wie sollen wir zu einer neuen Regelung gelangen? Die Frage ist nicht der Status Quo, die Frage ist der gute Wille, die Frage, ob zum Beispiel Juden das Verbot, auf dem Tempelberg zu beten, respektieren wollen oder nicht. Wenn wenigstens solche Vorgaben beachtet würden, wäre viel erreicht. Aber diesen guten Willen gibt es nicht, absolut nicht.

Was das christliche Engagement angeht, müssen wir leider sagen, dass nicht alle Kirchenführer sich trauen, diese Fragen anzusprechen. Unsere gemeinsamen Stellungnahmen sind daher immer ein etwas blasser Kompromiss, um allen gerecht zu werden. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, das reicht nicht. Man muss sich engagieren und den Mut haben, die Sachen klar auszusprechen. Nur hat das Konsequenzen, Reaktionen von jüdischer und anderer Seite, die nicht alle zu tragen bereit
sind.

(kna 09.11.2014 mc)








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