2014-11-09 08:18:02

Menschen in der Zeit: Maria Gazzetti – Mittlerin deutsch-italienischer Kultur


RealAudioMP3 Dr. Maria Gazzetti wurde in der mittelitalienischen Provinzstadt Viterbo geboren. Sie studierte klassische Philologie, Philosophie und Geschichte in Rom und setzte in Hamburg das Studium in Romanistik und Geschichte bis zur Promotion fort. 15 Jahre leitete sie in Frankfurt das Literaturhaus, anschließend zwei Jahre das Lyrik-Kabinett in München und seit 2013 ist sie Direktorin der „Casa di Goethe” in Rom, dem Haus in der römischen Via del Corso, in der der Dichter und Schriftsteller Johann Wolfgang von Goethe von 1786 bis 1788 lebte und arbeitete. Maria Gazzetti ist der deutsch-italienische Kultur-Austausch ein Herzensanliegen, Sie hat bereits in dem ersten Zeitabschnitt in Rom bewiesen, dass sie einen intensiven und dichten Austausch über die Alpen hinweg die deutsch-italienische Kultur außerordentlich belebt und bereichert.

Frau Dr. Gazzetti: Man sagt, Sie würden ein Buch pro Tag lesen? Stimmt das?

„Ja, nur….seitdem ich in Rom bin, habe ich soviel zu tun. Ich versuche am Wochenende das nachzuholen und lese zwei Bücher pro Tag. Ich muss lesen. Lesen ist für mich ein physisches Bedürfnis. Wenn ich zwei Tage ohne Lesen bin, werde ich unruhig .”

Sie waren lange Zeit die Kultur-Botschafterin Italiens in Deutschland und sind jetzt die Kultur-Botschafterin Deutschlands in Italien, in Rom. Wer weiß besser Bescheid über die Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede der beiden Kulturen, als Sie? Wo liegen sie, diese Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede?

„Ich denke, es gibt immer noch viele Missverständnisse über Deutschland. Leider hat man in Italien – auch die Intellektuellen – noch nicht richtig verfolgt, was an Entwicklung dieses Land geleistet hat. Im Bezug zum Beispiel auch auf die Förderung der zeitgenössischen Kunst, Literatur, Kultur. In Deutschland gibt es eine große Sehnsucht nach Kultur, Italien hat die Kultur, aber übersieht sie manchmal.”

Sie sind eine erfahrene, mit der deutschen wie italienischen Literatur- und Kulturszene gleichermaßen vertraute und vernetzte Wissenschaftlerin und leiten seit nun rund zwei Jahren diese einmalige Einrichtung in Rom, mit Literaturveranstaltungen und der Organisation vielfältiger Kunstformate. Welche würden Sie als die Schwerpunkte in der „Casa die Goethe” bezeichnen?

„Die Schwerpunkte sind sicherlich auf der einen Seite das Klassische. Das ist ein Museum, das an die Tradition der Italienreise Goethes erinnert, an die deutsche Sehnsucht nach Italien. Das ist das Thema. Das finde ich schön, dass dieses Museum sich einer Idee widmet. Das ist etwas Besonderes. Ich möchte, dass man in Rom sagt: man geht zur “Casa die Goethe” nicht nur weil man sich für Goethe interessiert, sondern man geht auch zur “Casa di Goethe”, um zu sehen, wie zwei europäische Länder miteinander kommunizieren können.”

Nun hat Italien auf dem Gebiet der Literatur, Kunst, Malerei, Architektur und Musik einen hervorragenden Ruf. Allerdings muss man dabei – wohl auch wie in Deutschland – öfters in die Vergangenheit zurückgreifen: Leonardo da Vinci, Raffael, Michelangelo, Verdi, Puccini, Dante Alighieri, Manzoni, Leopardi z.B. Was bestimmt heute die Kunst in den beiden Ländern?

„Tolle, wunderbare Frage. Wenn ich das jetzt in Kürze beantworten könnte, wäre meine Arbeit getan. Diese Frage stellen wir uns immer wieder. Ich glaube, wir leiden alle unter diesem Begriff der Unübersichtlichkeit. Bis vor 20 Jahren konnte man sagen, die deutsche Literatur ist Christa Wolf und Günther Grass, Heinrich Böll, Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann usw. Es gab klare Namen, die für ihre Länder gesprochen haben. Und ebenso in Italien Moravia, Calvino. Dacia Maraini, ich nenne jetzt nur die berühmten Namen. Das ist nicht mehr klar, weil wir immer weniger wissen, von dem Nachbarland. Leider. Das ist für mich eine traurige Erfahrung. Man redet von Europa, aber man weiß immer weniger was in Frankreich, in Spanien, in den Niederlanden oder Rumänien, Polen oder Italien veröffentlicht, gesehen wird. Außer den Büchern, den Filmen, die gleichzeitig überall gezeigt werden oder die Bücher in allen jeweiligen Buchhandlungen. Wir wissen leider immer weniger, wir wissen vielleicht mehr über indische Autoren – das ist jetzt kein Kritik – aber wir wissen immer weniger von dem Nachbarland und es wird immer weniger von dem Nachbarland übersetzt und das ist schade. Also die Orientierung ist immer schwieriger. Es bleibt immer weniger in der Rezeption hängen und deshalb hat man immer weniger ein Bild von dem anderen Land.”


Wie und was hat sich in der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit Italiens in den letzten Jahrzehnten verändert? Welches Italienbild existiert heute in Deutschland, außer den üblichen Klischees?

„Außer den üblichen Klischees….das ist schwierig. Sagen wir einmal: die große Liebesgeschichte zwischen Deutschland und Italien ist in den letzte 20 Jahren vielleicht enttäuscht worden. Deshalb gibt es ein Bild der Ratlosigkeit: dass man sich fragt, wie kann es sein – Deutschland liebt Italien , natürlich auch das Klischeehafte aber auch das Wahre. die Kunst, die Landschaft, das Design, die Menschen. Und Italien? Man fragt sich im Ausland, wie ist es möglich, dass die Italiener politisch über die vielen Regierungen über die vielen anderen Geschichten so reagieren? Man ist sich etwas fremd geworden. Was mir auffällt ist, dass die Italiener wirklich eine große Neigung zum klagen haben, wenig Verantwortung übernehmen. Italien war das Land der Höflichkeit, und ich finde, dass die Sprache sehr aggressiv und grob geworden ist. Das macht mir das Land etwas fremd, Ich bin aber sehr zuversichtlich, denn ich sehe wirklich eine jüngere Generation, die anders geworden ist. Als ich vor 30 Jahren weg gegangen bin, wollte kein junger Italiener ein Jahr in Paris , Barcelona oder in Berlin sein, weil das Wetter oder der Kaffee dort schlecht ist. Die heutige Generation ist wirklich internationaler geworden, spricht englisch und hat keine Angst den schlechten Kaffee zu trinken. Und ich vertraue, dass diese Generation auch weniger korrupt sein wird, denn – leider muss ich sagen – Korruption gibt es überall, aber ich glaube, dass in Italien die Kontrolle nicht funktioniert. Und dieser grassierende Egoismus: das ist ein großer Unterschied zu Deutschland. Deutschland hat darüber nachgedacht, welche Verbrechen dieses Land hinter sich hat, es hat ein großes Bewusstsein entwickelt, für das Allgemeinwohl. Wenn die Italiener das erkennen würden, würden sie sagen: das möchten wir auch.”

Das berühmte Wortspiel: die Deutschen lieben die Italiener, aber sie schätzen sie nicht und die Italiener schätzen die Deutschen, aber sie lieben sie nicht: wie viel Wahrheit liegt in diesem Spruch?

„Ich dachte bis vor kurzem, es läge viel Wahrheit in diesem Spruch. Aber vielleicht haben sich die Proportionen geändert. Die Italiener schätzen die Deutschen etwas mehr als ich dachte, die Italiener würden die Deutschen gerne mehr lieben, aber wenn man dann die Leute und das Land nicht so gut kennt, kann man sie auch nicht so ganz lieben. Ich denke, die Deutschen lieben die Italiener mehr, als die Italiener annehmen.”


Die erste große Liebe der Deutschen gegenüber Italien – historisch gesehen – war im 18. und 19. Jahrhundert die der Schriftsteller, Kunsthistoriker, Maler und Künstler, bestes Beispiel Goethe. Die Objekte dieser Liebe waren nicht so sehr die Italiener, sondern die klassische Kultur Italiens: antikes Rom, Renaissance, und Romantik. Die zweite Welle der Liebe hat die Deutschen in der Nachkriegszeit erfasst und zeigte sich in einer fast unbegrenzten Lust an Reisen nach Italien. Wo liegen denn heute die Schwerpunkte der gegenseitigen Anziehungskraft füreinander? Und wo wird das auf dem Gebiet der Kunst und Literatur offenkundig?

„Das Buch: die Italienreise von Goethe ist sehr wichtig, weil: Goethe hat weniger die Denkmäler als die Menschen geliebt. Was Goethe über die Neapolitaner schreibt! Goethe schaut sich auch die Menschen an. Und auch darin ist er groß. Im Moment lautet die Faszination der Deutschen über Italien: Italien ist einfach die Wiege der Kultur. Ich sehe aber leider – und darin liegt auch die Arbeit aller deutschen Kultureinrichtungen in Italien – ich sehe im Moment weniger präzises, gezieltes Interesse für eine bestimmte zeitgenössische Literatur, oder Film, oder Tanz. Es ist mehr das Interesse für den großen, kulturellen Reichtum, das Italien in jedem kleinen Dorf anbieten kann. Das ist überwältigend für die Deutschen und da braucht es ein ganzes Leben und noch mehr, um ganz Italien kennen zu lernen. Es sind alle Zeiten der Geschichte vertreten. Und dazu kommt noch, dass es nicht nur die Geschichte und die Kultur und die vielen historischen Zeiten gibt. Dazu kommt, was Italien außerdem noch zu bieten hat: die berühmte Lebensart. Das Leben auf der Straße, die Mode, das Wetter, die Küche. Ich glaube, die Italiener wissen wirklich nicht, in was für einem schönen Land sie wirklich leben. Diese Schönheit muss man schützen, sonst bröckelt alles ab.”

Ihre große Liebe Frau Gazzetti gilt der Poesie, der Lyrik. Was unterscheidet Lyrik von anderen Literaturarten?

„Die Lyrik ist instinktiv. Das Transzendente muss ganz schnell, ganz instinktiv ausgedrückt werden. Und dann ist es auch ein geschlossenes System, das mag die Lyrik schwer verständlich machen, aber ich sage immer: Die Lyrik muss man nicht verstehen, man muss sie spüren. Und außerdem übt die Lyrik eine Sprache, die nicht immer so leicht konsumierbar ist. Und das nenne ich auch „Rettung der Gattung Mensch”.“

Schreiben Sie selbst auch Gedichte?

„Nein, ich habe zuviel Respekt vor der Lyrik, nein ich schreibe keine Lyrik. Ich habe oft Lyriker getroffen, die auch sagen: Jeder kann Lyrik schreiben, er muss damit nicht berühmt werden. Man muss es nicht veröffentlichen, aber jeder darf selbstverständlich Lyrik schreiben. Ich kenne auch einen Schriftsteller der sagte mir: Jeden morgen vor dem Aufstehen, muss er ein Gedicht lesen.”

Ihr Lieblingsgedicht, Frau Gazzetti?

„Ich habe ein Gedicht, dass mich begleitet: ich kann nicht sagen, dass es das schönste ist, aber es hat mich merkwürdigerweise immer wieder begleitet. Und an das habe ich auch gedacht, als ich in die „Casa di Goethe” kam. Ein Gedicht von Caproni. Die ersten Verse lauten: „Ich bin wieder da, wo ich niemals war”. „

Sie waren 15 Jahre Leiterin des Literaturhauses in Frankfurt und haben das Literaturleben dort und in München nachhaltig geprägt und bereichert. Sie haben großartige Veranstaltungen organisiert. Welche Kulturereignisse stehen in der „Casa di Goethe” in Rom demnächst vor der Tür?

„Wir werden eine Ausstellung über Thomas Mann „Mario und der Zauberer” machen, dann stellen wir eine zeitgenössische Fotografin vor, die ich sehr, sehr schätze, Barbara Klemm- sie hatte eine Retrospektive gerade im Gropius-Bau in Berlin - und sie hat Fotos gemacht anhand der Goethereise. Dann produziert die „Casa di Goethe” eine Ausstellung über Lady Hamilton als Schönheitsbegriff des Neoklassizismus und wir werden 2016 zusammen mit einem Professor der Hertziana und anderen Kooperationspartnern 300 Jahre „Cimitero Accatolico” hier feiern. A propos Lyrik: ich habe jetzt eine Reihe iniziiert, „incontri romani”, wo ein deutscher und italienischer Autor sich auf dem Podium treffen werden.”

(rv 09.11.2014 ap)







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