2014-11-03 13:13:46

Die Geister des adriatischen Meeres...


RealAudioMP3 Für viele Europäer ist es Urlaubsort, für viele Flüchtlinge dagegen ein Friedhof: das Mittelmeer. Rund 3.200 Flüchtlinge sind bei dem Versuch, ein besseres Leben zu finden, alleine in diesem Jahr untergegangen. Immerhin konnte bisher die italienische Operation Mare Nostrum 400 Bootsflüchtlinge pro Tag retten; der im Oktober 2013, nach einer Katastrophe von Lampedusa, begonnene Marine-Einsatz zur Rettung in Seenot geratener Flüchtlinge ist nun allerdings offiziell beendet, und es übernimmt der von der EU-Grenzschutzagentur Frontex geleitete Einsatz „Triton“.

Viele befürchten, dass das zu mehr Todesopfern im Mittelmeer führen wird, denn „Triton“ fischt nur in heimischen Gewässern innerhalb der EU-Grenzen. Weiterhin also werden Flüchtlinge sterben, ohne dass jemand ihre Geschichten kennt. Der italienische Journalist Michele Sasso vom politischen Wochenmagazin L’Espresso hat für eine Reportage über Bootsflüchtlinge jetzt einen renommierten Medienpreis bekommen. Sasso nennt die Flüchtlinge Geister:

„Die Geister des adriatischen Meeres sind die Menschen, die vor den Küsten Italiens abgewiesen werden, in Ancona, Bari, Venedig, Brindisi. Jeden Tag, jeden Monat kommen Tausende an, die Rechte brauchen, internationalen Schutz; aber im Endeffekt werden sie wieder zurückgeschickt, weggeschickt an die Küsten von Griechenland, wo ihre Rechte nicht respektiert werden. Sie leben in Slums, werden gefoltert, sind täglichen Quälereien ausgesetzt. Ja, sie sind Geister: Sie sind nirgendwo registriert, verstecken sich in Containern. Manche sterben. Aber Italien schickt weiter die Menschen weg.“

Michele Sasso erzählt in seiner Preis-Reportage die Geschichte von Reza, einem 17-jährigen afghanischen Jungen, der zu Fuß seine Heimat verließ. Er flüchtete über den Iran in die Türkei und weiter über die Grenze bis nach Griechenland. Dreimal versuchte er nach Italien zu kommen. Es war sein Traum, noch weiter gen Norden zu ziehen, doch er wurde dreimal abgelehnt. Dabei hätte er jedes Recht gehabt, als Flüchtling anerkannt zu werden, denn seine Familie ist von der islamischen Talibanbewegung Afghanistans ausgerottet worden. Reza ging schließlich zu Fuß von Griechenland nach Friuli; Jahre sind vergangen, bis schließlich seine Rechte anerkannt wurden. Die Recherche für diese Geschichte hat Michele Sasso in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet:

„An die Häfen zu gehen und zu verstehen, wie die Menschen in dieser Grauzone behandelt werden. In Acona haben mir die lokalen Behörden gezeigt, was dort wirklich passiert, an den Anlegestellen. Dort ist das Niemandsland. Wo diese Menschen ankommen, fremd, unbehaglich, nach Tausenden von Kilometern endlich in Italien. Das zeigt einem ein Teil des komplexen Mosaiks der Immigration, ein Phänomen, mit dem Italien es seit 15 Jahren zu tun hat.“

Reza lebt jetzt als anerkannter politischer Flüchtling in Parma. Er hat es geschafft, dank eines Einspruchs der Europäischen Union aufgrund seiner speziellen Situation alle Barrieren zu überwinden. So wie er hätten viele das Recht auf internationalen Schutz, auf ein Visum, aber ihnen wird die Tür vor der Nase zugeschmissen, erklärt Sasso.

Als ich bei ihm zuhause war, hat er mir seine Narben gezeigt. Die Spuren der Folter, die ihm in Afghanistan zugefügt wurde. Stundenlang hat er mir alles im Detail erklärt, wie er für etwas Geld in den Iran kam, die Demütigung, die Misshandlungen, die er über sich ergehen ließ, um nach Italien zu gelangen, und dann sein Traum von Europa. Mit 17 flüchtet er, und mit 21 Jahren kommt er in Italien an. Vier Jahre lang opfert er alles, um seinen Traum zu verwirklichen; er macht vor keiner Grenze halt. Als ihm nur noch eine Meerenge fehlte - er kam praktisch von Asien in den Hafen von Patras (Griechenland) -, da fehlte nur noch der letzte Schritt, um nach Italien zu kommen: Er war schon in Europa, aber in einem Europa, dass seine Rechte nicht anerkannte.“
(rv 03.11.2014 no)








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