Für viele Europäer
ist es Urlaubsort, für viele Flüchtlinge dagegen ein Friedhof: das Mittelmeer. Rund
3.200 Flüchtlinge sind bei dem Versuch, ein besseres Leben zu finden, alleine in diesem
Jahr untergegangen. Immerhin konnte bisher die italienische Operation Mare Nostrum
400 Bootsflüchtlinge pro Tag retten; der im Oktober 2013, nach einer Katastrophe von
Lampedusa, begonnene Marine-Einsatz zur Rettung in Seenot geratener Flüchtlinge ist
nun allerdings offiziell beendet, und es übernimmt der von der EU-Grenzschutzagentur
Frontex geleitete Einsatz „Triton“.
Viele befürchten, dass das zu mehr Todesopfern
im Mittelmeer führen wird, denn „Triton“ fischt nur in heimischen Gewässern innerhalb
der EU-Grenzen. Weiterhin also werden Flüchtlinge sterben, ohne dass jemand ihre Geschichten
kennt. Der italienische Journalist Michele Sasso vom politischen Wochenmagazin L’Espresso
hat für eine Reportage über Bootsflüchtlinge jetzt einen renommierten Medienpreis
bekommen. Sasso nennt die Flüchtlinge Geister:
„Die Geister des adriatischen
Meeres sind die Menschen, die vor den Küsten Italiens abgewiesen werden, in Ancona,
Bari, Venedig, Brindisi. Jeden Tag, jeden Monat kommen Tausende an, die Rechte brauchen,
internationalen Schutz; aber im Endeffekt werden sie wieder zurückgeschickt, weggeschickt
an die Küsten von Griechenland, wo ihre Rechte nicht respektiert werden. Sie leben
in Slums, werden gefoltert, sind täglichen Quälereien ausgesetzt. Ja, sie sind Geister:
Sie sind nirgendwo registriert, verstecken sich in Containern. Manche sterben. Aber
Italien schickt weiter die Menschen weg.“
Michele Sasso erzählt in seiner
Preis-Reportage die Geschichte von Reza, einem 17-jährigen afghanischen Jungen, der
zu Fuß seine Heimat verließ. Er flüchtete über den Iran in die Türkei und weiter über
die Grenze bis nach Griechenland. Dreimal versuchte er nach Italien zu kommen. Es
war sein Traum, noch weiter gen Norden zu ziehen, doch er wurde dreimal abgelehnt.
Dabei hätte er jedes Recht gehabt, als Flüchtling anerkannt zu werden, denn seine
Familie ist von der islamischen Talibanbewegung Afghanistans ausgerottet worden. Reza
ging schließlich zu Fuß von Griechenland nach Friuli; Jahre sind vergangen, bis schließlich
seine Rechte anerkannt wurden. Die Recherche für diese Geschichte hat Michele Sasso
in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet:
„An die Häfen zu gehen und zu
verstehen, wie die Menschen in dieser Grauzone behandelt werden. In Acona haben mir
die lokalen Behörden gezeigt, was dort wirklich passiert, an den Anlegestellen. Dort
ist das Niemandsland. Wo diese Menschen ankommen, fremd, unbehaglich, nach Tausenden
von Kilometern endlich in Italien. Das zeigt einem ein Teil des komplexen Mosaiks
der Immigration, ein Phänomen, mit dem Italien es seit 15 Jahren zu tun hat.“
Reza
lebt jetzt als anerkannter politischer Flüchtling in Parma. Er hat es geschafft, dank
eines Einspruchs der Europäischen Union aufgrund seiner speziellen Situation alle
Barrieren zu überwinden. So wie er hätten viele das Recht auf internationalen Schutz,
auf ein Visum, aber ihnen wird die Tür vor der Nase zugeschmissen, erklärt Sasso.
„Als
ich bei ihm zuhause war, hat er mir seine Narben gezeigt. Die Spuren der Folter, die
ihm in Afghanistan zugefügt wurde. Stundenlang hat er mir alles im Detail erklärt,
wie er für etwas Geld in den Iran kam, die Demütigung, die Misshandlungen, die er
über sich ergehen ließ, um nach Italien zu gelangen, und dann sein Traum von Europa.
Mit 17 flüchtet er, und mit 21 Jahren kommt er in Italien an. Vier Jahre lang opfert
er alles, um seinen Traum zu verwirklichen; er macht vor keiner Grenze halt. Als ihm
nur noch eine Meerenge fehlte - er kam praktisch von Asien in den Hafen von Patras
(Griechenland) -, da fehlte nur noch der letzte Schritt, um nach Italien zu kommen:
Er war schon in Europa, aber in einem Europa, dass seine Rechte nicht anerkannte.“
(rv 03.11.2014 no)