Indien: Massive Verletzung der Kinderrechte gehört zum Alltag
Der diesjährige Friedensnobelpreis zeigt auf, dass Kinder in Indien weiterhin enorm
benachteiligt sind: Das sagt der Salesianerpater Salibindla Balashowry aus Indien.
Wie sein Landsmann, der Nobelpreisträger Kailash Satyarthi, gehört Balashowry zu Indiens
Vorkämpfern für Kinderrechte. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Kathpress erinnert
er daran, dass Indien 1992 die UNO-Kinderrechtskonvention ratifiziert habe. Umgesetzt
werde diese allerdings nicht. „Indien rühmt sich seines Wirtschaftsaufschwungs, doch
viele selbst grundlegendste Bedürfnisse von Kindern sind nicht erfüllt. Fortschritte
gibt es seit Jahren nicht, denn Kinder sind stets an letzter Stelle der politischen
Agenda.“
Balashowry ist Ordensmann und Soziologe. Er leitet das Don Bosco-Programm
in der Millionenstadt Vijayawada im südostindischen Bundesstaat Andhra Pradesh und
ist Projektpartner des Hilfswerks „Jugend. Eine Welt“, auf dessen Einladung er derzeit
mit seinem Kollegen, Programmleiter Venkataswamy Rajarapu, Österreich besucht. Der
Salesianerorden betreibt Indiens größtes Netz für die Betreuung von Straßenkindern;
sein sozialpädagogisches Programm umfasst landesweit u.a. hundert Notschlafstellen,
117 Kinderheime, 233 Straßen-Bildungszentren, 63 Ausbildungszentren und Telefonhotlines
für Kinder, wobei nicht auf soziale Schicht, Kaste oder Religion der jungen Empfänger
geachtet wird. Viele Gesichter der Benachteiligung Benachteiligung
von Kindern hat in Indien viele Gesichter, Hintergrund ist meist Armut. „Weit verbreitet
sind häusliche Gewalt und Missbrauch. 40 Prozent aller Kinder Indiens sind unterernährt,
viele müssen durch Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen zum Familieneinkommen beitragen.
Besonders benachteiligt sind Mädchen, die wegen ihres Geschlechts oft abgetrieben,
früh verheiratet oder nicht zur Schule geschickt werden“, so Rajarapu, ein Experte
für Trauma-Arbeit und frühkindliche Entwicklung. Äußerst problematisch sei auch
die Situation von Kindern mit Behinderungen, nach Konflikten mit dem Gesetz sowie
von jenen Kindern aus den Dörfern, die auf Suche nach Arbeit auf den Großstadtstraßen
landen: „Sie laufen der organisierten Kriminalität, dem Menschenhandel und HIV/Aids
geradezu in die Arme. 80 Prozent von ihnen sind drogensüchtig“, so Rajarapu. Aktuell
beobachte er, dass immer mehr Mädchen unter den Straßenkindern sind, wobei das Problem
des Menschenhandels - für Hausangestellte und Prostitution - besonders zunehme. Das
Don Bosco-Programm in Vijaywada beherbergt das landesweit einzige nicht-medizinische
Zentrum für drogenabhängige Straßenkinder. Es hat seit 1988 bereits 64.000 Kinder
von den Straßen und Bahnhöfen geholt und 27.000 von ihnen in die Gesellschaft - vor
allem in die Familien - erneut integriert. Die Arbeit geschieht in Kooperation mit
der Polizei, weiteren NGOs und Projektpartnern sowie unter Mitarbeit auch österreichischer
Jugendlicher, die ein soziales Jahr oder einen Zivilersatzdienst im Ausland leisten.
Der Schaden durch die schlimmen Lebenserfahrungen sei dennoch groß und der Rehabilitationsprozess
äußerst langwierig, betonte Rajarapu: „Viele Kinder entwickeln später Persönlichkeitsstörungen,
Mängel im Selbstbewusstsein und Selbstwert oder sind traumatisiert. Heilung braucht
professionelle Zuwendung über lange Zeit.“ Kinderparlament und Schulzertifikate Hauptfokus
der Anstrengungen des Ordens liegt deshalb auf Prävention, Aufklärung und konkreter
Umsetzung der Kinderrechte. Bereits 150 Dörfer rund um die Stadt Vijayawada gehören
zum von den Salesianern initiierten „Child safety net“ (Netz für Kindersicherheit),
das u.a. ein Meldesystem für Gewalt gegen Kinder umfasst und bei Vorfällen psychologisch,
medizinisch und rechtlich begleitet. Im gesamten Bundesstaat Andhra Pradesh wurden
zudem in 300 Dörfern „Kinderparlamente“ eingerichtet, in denen alle Kinder zwischen
6 und 18 Jahren ihre Beobachtungen und Probleme unter Begleitung eines erwachsenen
Trainers diskutieren. Eine Innovation für Indien ist auch das „Child-friendly“
(Kinderfreundlich)-Zertifikat, für dessen Einführung sich der Salesianerorden stark
macht. „Wir überprüfen anhand bestimmter Kriterien, ob Schulen den Bedürfnissen von
Kindern gerecht werden“, erklärte Rajarapu das Konzept. Den Ausschlag geben Fragen
wie etwa, ob das Mittagessen warm und gekocht ist, ob das Trinkwasser sauber ist,
ob Kindern eine Beschwerdestelle zur Verfügung steht oder ob es Körperstrafen gibt.
„Auch die Frage nach sauberen und getrennten Toiletten entscheidet mit - denn wo es
sie nicht gibt, bleiben Mädchen der Schule oft fern“, berichtete der Programmleiter. Nobelpreis
muss „Weckruf“ sein Indien benötige dringend einen Perspektivenwechsel,
fordert Salesianerpater Balashowry. „Der Nobelpreis muss ein Weckruf sein, ebenso
wie der Human Development Index der UNDP, der für Indien seit Jahren stagniert. Jede
Entwicklung, die sich nur auf die Wirtschaftsleistung beschränkt, ist nicht ganzheitlich
und somit ungesund. Wirkliche Entwicklung gibt es in Indien nur dann, wenn sie bei
den heute marginalisierten Sektoren der Bevölkerung geschieht.“ Dies gelinge, wenn
es Kindern wieder das Erleben von „Kindheit“ ermöglicht werde – „durch Rücksicht auf
ihre Rechte und Ansprüche auf Leben, Gesundheit, Bildung, Zuwendung und Liebe“, so
der Priester. (kap 16.10.2014 sk)