Die Kirche begeht an diesem Samstag das Fest des heiligen Franz von Assisi. Vor genau
einem Jahr besuchte dazu Papst Franziskus - erster römischer Bischof dieses Namens
in der Geschichte - das umbrische Städtchen, in dem der heilige Franz einst wirkte.
Franziskus einst und jetzt, von Umbrien zum Vatikan - damit beschäftigt sich dieser
Aufsatz von Stefan Kempis, erschienen im Jahrbuch 2013 von Radio Vatikan.
Warum
Franziskus? Es gibt doch schon Benedikt. Von den Ordensgründern, nicht von den Päpsten
ist die Rede. „Was ist die Einführung derartiger Neuerungen anderes als ein Vorwurf
an das geruhsame und oberflächliche Leben derjenigen, die den alten Orden angehören,
auf die sich die Kirche seit altersher gestützt hat?“, notierte 1224 ein Prämonstratenser
aus der Nähe von Halle in seiner „Chronik von Lauterberg“: „Man weiß doch, zu welcher
Höhe an Heiligkeit es die seligsten Augustinus und Benediktus auf Grund ihrer Lebensweise
gebracht haben... Würde man ihren Weisungen die Gefolgschaft nicht verweigern, bräuchte
es gewiss keine neuen Orden... Nur schwerlich kann man glauben, dass einer aus dem
Orden der Minderen Brüder heiliger werden wird als Augustinus oder Benediktus!“ (Zitiert
nach: Franziskus-Quellen, Hg. Dieter Berg und Leonhard Lehmann, Kevelaer 2009, S.
1550. Im Folgenden abgekürzt mit FQ.) Die Franziskaner, diese neue Bewegung der „Minderen“
und Ungewaschenen, saß damals den Benediktinern wie die Laus im Pelz.
Umso
überraschender, dass sich ausgerechnet in einer Benediktiner-Höhle das vielleicht
einzige zeitgenössische Porträt des heiligen Franz von Assisi findet. Julien Green
hat dieses Porträt in einer Nische des „Sacro Speco“ von Subiaco in seinem „Bruder
Franz“ beschrieben und psychologisch gedeutet: Lächelnd sei die eine Gesichtshälfte
des Dargestellten, unbeschwert; ernst hingegen, ja düster die andere, die offenbar
erst später hinzugefügt worden sei. Der doppelte Franziskus. Nicht nur ein fröhlicher
„Taugenichts“ des Mittelalters also steht da vor uns, sondern auch ein Schmerzensmann.
Ob der Maler damals wirklich sein Porträt noch einmal überarbeitet hat, müssen die
Kunsthistoriker entscheiden, doch mich läßt Greens Interpretation des „Poverello“
nicht in Ruhe. Darf man das also, unsere Zweifel, unsere heutige Gespaltenheit in
ihn hineinlesen?
Tun wir es einfach mal, die Quellen geben es ja her. Mitten
im berühmten Sonnengesang zum Beispiel, dieser Riß. Gerade noch hieß es „Gelobt seist
du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde“, und dann schwingt der Ton um:
„Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod; ihm kann
kein Mensch lebend entrinnen. Weh jenen, die in tödlicher Sünde sterben“ (FQ, S. 41).
Gleichmut hört sich anders an: Hier versucht jemand mitten im Schöpfungslied, den
plötzlichen Schrecken zu bannen. „Schmerz und Freude erfüllten gleichzeitig sein Inneres“
(FQ, S. 836), bescheinigte ihm Bonaventura, und „unter Heiligen noch heiliger, unter
Sündern wie einer von ihnen“ (FQ, S. 249) sei Franziskus gewesen, notierte nur zwei
Jahre nach dem Tod des Heiligen oder Sünders sein erster Biograf Thomas von Celano,
auch dies Hinweise auf den gespaltenen Franz.
Thomas von Celano (ein Name,
aus dem Umberto Eco im „Namen der Rose“ vielleicht „Bruder Paulus von Celan“ gemacht
hätte) ist unser Kronzeuge. Einmal führt er vor, wie nah ausgelassene Freude und jähe
Trauer bei Franz zusammenlagen. „Zuweilen machte er es so: Wenn der Geist in seinem
Innern in süßer Melodie aufwallte, gab er ihr in einem französischen Lied Ausdruck,
und der Hauch des göttlichen Flüsterns, den sein Ohr heimlich empfangen hatte, brach
in einen französischen Jubelgesang aus. Manchmal hob er auch, wie ich mit eigenen
Augen gesehen habe, ein Holz vom Boden auf und legte es über seinen linken Arm, nahm
dann einen kleinen, mit Faden bespannten Bogen in seine Rechte und führte ihn über
das Holz wie über eine Geige. Dazu führte er entsprechende Bewegungen aus und sang
in französischer Sprache vom Herrn. Diese ganzen Freudenszenen endeten häufig in Tränen,
und der Jubelgesang löste sich in Mitleiden mit dem Leiden Christi. Dann seufzte der
Heilige beständig, und sein Stöhnen nahm immer mehr zu...“ (FQ, S. 370).
Himmelhoch
jauchzend – zu Tode betrübt. Armer Franziskus.
Nein, natürlich war er kein
Moderner. Aber man kann ihn durch unsere moderne Brille ansehen, es funktioniert.
Auch im Mittelalter war es schwer, über Bäume zu sprechen oder über Gott, einem Wolf
zu predigen oder dem Menschen, der „des Menschen Wolf“ auch damals war, Gedichte zu
schreiben (die des Franz gehören zu den ältesten in italienischer Volkssprache) oder
Geschichte. Die Pose des Kaufmannssohns, der seinem Vater das letzte Hemd vor die
Füße wirft und nackt dasteht, erinnert an James Dean oder Mickey Rourke (von dem es
übrigens einen schönen Franziskus-Film gibt, gedreht in einem wie von De Chirico nachgebauten
Assisi). Franziskus machte es sich nicht leicht, das verbindet ihn, oder nicht?, mit
uns. „Und nachdem mir der Herr Brüder gegeben hatte, zeigte mir niemand, was ich tun
sollte“ (FQ, S. 60), schrieb er in seinem Testament, und wir Heutigen hören Ironie
heraus; „was mir bitter vorkam“, verwandelte er sich, oder verwandelte der Herr ihm,
„in Süßigkeit der Seele und des Leibes“ (FQ, S. 59). „Und wir waren ungebildet und
allen untertan“ (FQ, S. 60).
Ungebildet? Tatsächlich? Oder kokettiert da nur
einer, wie kurz zuvor und ganz woanders die „ungelehrte“ (indocta) Hildegard in Bingen,
mit seiner Armut im Geiste? Auch an seinem gestörten Umgang mit Buch und Bildung lässt
sich die innere Doppelheit des Franziskus zeigen, liest man einmal die Quellen darauf
hin. „Wer den Gipfel der Armut erreichen will“, so zitiert die „Legenda Maior“ des
heiligen Bonaventura den Franziskus, „muss nicht nur auf die Klugheit dieser Welt,
sondern im gewissen Sinne auch auf wissenschaftliche Kenntnisse verzichten. So soll
er, auch dieses Besitzes enteignet, eintreten in die Macht des Herrn und sich nackt
in die Arme des Gekreuzigten werfen“ (FQ, S. 727). Nackt und Buch, das passte für
ihn offenbar nicht zusammen. Einem Bruder, der ihn um die Erlaubnis bat, ein Psalterium
zu besitzen, gab er laut Thomas von Celano Asche statt des gewünschten Buches, und
die nicht-bullierte Regel verbot überflüssigen Bücherbesitz (vgl. FQ, S. 72).
Einerseits.
Andererseits aber brüstete sich Franziskus, er habe sich „schon so viel von der Schrift
angeeignet, dass es mir zur Betrachtung und Erwägung vollauf genügt“ (FQ, S. 358),
und sein „Offizium vom Leiden des Herrn“ (FQ, S. 17 ff.) besteht dreizehn Seiten lang
aus nichts anderem als aufeinandergehäuften Bibelzitaten. „Es gefällt mir, dass du
den Brüdern die heilige Theologie vorträgst“, schrieb er dem Bruder Antonius von Padua,
einem wortgewaltigen Prediger, „wenn du nur nicht durch dieses Studium den Geist des
Gebetes und der Hingabe auslöschst“ (FQ, S. 108). Forscher hielten diesen Brief lange
für eine Fälschung, weil der oberste Mindere hier gar nicht so wissenschaftskritisch
auftrat wie sonst. Jedenfalls kann einen schon die schiere Menge von Schriften, die
aus der Feder des heiligen Franz stammen, und die Vielfalt ihrer literarischen Gattungen
(Gebete, Lieder, Regeln, Briefe, Testamente) stutzig machen: 131 Seiten in den „Franziskus-Quellen“.
Nicht schlecht für einen, der neben dem Evangelium nichts Schriftliches dulden wollte.
Franziskus,
der Widersprüchliche. Wer heute die Quellen des 13. Jahrhunderts zur Hand nimmt, der
entdeckt in ihnen einen überraschenden Menschen. Auch in seiner letzten Stunde sehen
wir ihn nackt. „Wenn ihr seht, dass es mit mir zu Ende geht“ – das sind nach Thomas
von Celano seine letzten Worte – „so legt mich nackt auf den Boden und lasst mich,
wenn ich verschieden bin, so lange liegen, wie man braucht, um gemächlich eine Meile
weit gehen zu können“ (FQ, S. 417). In dieser gemächlichen Meile glaube ich noch einmal
den ganz eigenen, originellen Ton des Franziskus zu hören.
„4. Oktober 2013:
Franziskus kehrt zurück.“ Das behaupteten Plakate, als Franziskus, jetzt meine ich
den Papst, im ersten Amtsherbst Assisi besuchte. Als hätte San Francesco seine Brüder
nicht immer wieder beschworen, sich bloß nicht zu sehr mit dem Stuhl von Rom einzulassen
(O-Ton im Testament: „Ich befehle streng im Gehorsam allen Brüdern, wo sie auch sind,
ja nicht zu wagen, irgendeinen Brief bei der römischen Kurie zu erbitten“, FQ, S.
61). Aber dass es Franziskus, den Rebellen und Doppelten, jetzt auch in Papstform
gibt, ist eigentlich nur ein weiterer von vielen Widersprüchen – die ihn, gnadenlos
und voll der Gnade, hinüberziehen in die Moderne.
Am Franz-Porträt wird, wie
damals im „Sacro Speco“, immer weitergemalt.