Mittelmeer-Flüchtlinge: Frontex Plus kann Mare Nostrum nicht ersetzen
Vor einem Jahr ereignete
sich eine der schlimmsten Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer: Am 3. Oktober
2013 kenterte ein aus Libyen kommendes Boot vor der sizilianischen Insel Lampedusa.
387 Menschen starben, 155 Flüchtlinge wurden von der italienischen Küstenwache und
von Fischern geborgen. Papst Franziskus traf am vergangenen Mittwoch Überlebende der
Tragödie. Er hatte als erster Papst Lampedusa besucht, um die Augen der Welt auf ein
Drama zu richten, das bis heute nicht enden will.
„Die Reise nach
Lampedusa war die erste Reise des Papstes außerhalb von Rom überhaupt, sie war ein
Symbol – auch, wie diese Reise gemacht war.“
Das sagt Christopher Hein,
Direktor des Italienischen Flüchtlingsrates, eine der wichtigsten Institutionen für
den Schutz und die Beratung von Mittelmeerflüchtlingen in Italien. Papst Franziskus
hatte bei seinem Besuch auf Lampedusa die große Gleichgültigkeit gegenüber den Tragödien
auf dem Mittelmeer und dem Schicksal der Flüchtlinge angeprangert. Doch auch die Gesten
des Papstes sprachen auf Lampedusa eine klare Sprache, so Christopher Hein:
„Er
ist nicht in Lampedusa ins Aufnahmezentrum gegangen, sondern er ist auf das Meer rausgefahren
mit einem Fischerboot, hat Blumen geworfen in das Wasser, in Angedenken der Opfer
im Mittelmeer. Und das scheint mir eine ganz wichtige Geste.“
Massengrab
Mittelmeer – mehr als 22.500 Tote
Der Italienische Flüchtlingsrat schätzt
die Zahl der Migranten, die bei der Überfahrt Richtung Europa im Mittelmeer bisher
starben, auf insgesamt 22.500. Die Dunkelziffer liege noch viel höher, präzisiert
Hein im Interview mit Radio Vatikan, viele Tote würden gar nicht registriert. Ein
europäisches Journalistennetzwerk geht in der Tat von sogar mehr als 23.000 Mittelmeertoten
in den vergangenen 14 Jahren aus. Die geplante Ablösung der italienischen Rettungsmission
„Mare Nostrum“ durch das europäische Grenzschutzprogramm „Frontex Plus“ sieht Christopher
Hein skeptisch. Laut ersten Absprachen Italiens mit der Europäischen Kommission und
einzelnen Mitgliedsstaaten soll Frontex Plus die Aufgaben von Mare Nostrum ab Ende
November übernehmen. Das ist jedenfalls der Plan. Dazu Hein:
„Wir sehen
das nicht. Konkret gesprochen gibt es auch Äußerungen von Frontex selbst, dass sich
die zukünftigen Operationen beschränken auf die territorialen Gewässer, und damit
ist wenig geholfen. Die entscheidende Sache von Mar Nostrum war, gerade in internationalen
Gewässern, auf der hohen See, zu operieren.“
Mare Nostrum war nach der
Flüchtlingstragödie vom Oktober 2013 eingerichtet worden, um die Flüchtlinge auf dem
Meer zu bergen und weitere Tragödien zu verhindern. Dabei fuhren die Boote der italienischen
Marine fast bis vor die nordafrikanische Küste, um Menschenleben zu retten. Frontex
Plus dagegen konzentriert sich auf den Grenzschutz nur im Schengen-Einzugsbereich;
die Rettung von Booten, die vor „Europas Haustür“ kentern, ist dabei eigentlich nicht
vorgesehen. Lebensrettung ist damit gar keine Priorität des Programms, so Hein, der
sich die entsprechenden Stellungnahmen angesehen hat:
„Wo gesprochen wird
von ,besserer Überwachung von Außengrenzen und der Migrationsströme in die EU‘, zweitens
verstärkte Bekämpfung von Schleuserbanden, drittens verstärkte Zusammenarbeit der
EU mit den von ,Migrationsfragen betroffenen Transit- und Herkunftsstaaten‘. Das sind
Zielsetzungen, die die in einem Schreiben des deutschen Bundesinnenministers an die
EU-Kommissarin Cecilia Malmström hervorgehen, abgestimmt mit den Regierungen von Frankreich,
Großbritannien, Polen, Spanien und Italien.“
In Lebensrettung
statt Grenzschutz investieren
Zielsetzungen, die der steigenden Zahl
der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, diametral entgegenstehen.
Die Investitionen in die Abriegelung der „Festung Europa“ durch die Grenzschutzagentur
Frontex haben sich seit 2005 mehr als verzehnfacht: Das Jahresbudget für die Organisation
stieg seitdem von sechs auf 90 Millionen Euro, berichtete das deutsche Magazin „Der
Spiegel“. Von diesem Geld könnte man zehn Monate lang Leben auf dem Mittelmeer retten:
Mare Nostrum kostet Italien rund neun Millionen Euro im Monat.
Die Verstärkung
des Grenzschutzes an den Außengrenzen der EU auf festem Terrain ist einer der Gründe,
weshalb Flüchtlinge den unsicheren Seeweg wählen. Außerdem sehen Schlepper und Menschenhändler
in den vielen Menschen, die vor den Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent sowie
aus Syrien und dem Irak fliehen, das Geschäft ihres Lebens. Und gehen dabei über Leichen,
berichtet der Direktor des Italienischen Flüchtlingsdienstes:
„Libyen und
Ägypten ist voll von Booten, die nicht mal geeignet wären, auch nur 100 Meter auf
das Meer zu fahren. Und das ist auch einer der Gründe, warum wir diesen dramatischen
Anstieg von Opfern in den letzten drei Monaten haben, weil die Schlepper immer mehr
Boote benutzen, die nicht mal einen Fluss überqueren könnten.“
Keine Boote,
keine Toten auf dem Mittelmeer – diese Formel wäre laut Hein ein Teil der Lösung des
Problems. Hier wären allerdings die Länder gefragt, aus denen die Flüchtlinge abfahren.
Wie etwa Libyen, das derzeit aber selbst im Chaos versinkt:
„Teile des Landes,
gerade auch die Küstengebiete, sind in der Kontrolle bewaffneter Milizen, die ihrerseits
teilweise gemeinsame Sache mit den Schleppern machen. Daher ist es illusorisch zu
meinen, dass man da größere Kontrollmaßnahmen seitens der Europäischen Union unterstützen
könnte.“
Legale Möglichkeiten, in den Ländern selbst schon Asylanträge
zu stellen
Die Abfahrt der Boote werde sich unter diesen Bedingungen
also wohl kaum verhindern lassen, so Hein. Er plädiert für legale Möglichkeiten für
Menschen, die aufgrund Verfolgung und Krieg ihre Heimat verlassen müssen, Asyl in
Europa zu beantragen. Und zwar nicht erst nach einer lebensgefährlichen Überfahrt
über das Mittelmeer, sondern bei ausländischen Vertretungen in ihren jeweiligen Ländern:
„Dass die diplomatischen Vertretungen der 28 Mitgliedsstaaten der EU in die
Lage versetzt werden, humanitäre Einreisevisen für die entsprechenden Länder
auszustellen und die Türen öffnen, damit Menschen ein Asylgesuch dort an die diplomatischen
Vertretungen stellen können. Also nicht gezwungen sind, erst einmal den Fuß physisch
nach Lampedusa oder Syrakus zu setzen, um überhaupt erst einen Rechtsschutzantrag
stellen zu können. Da müssen Kanäle geschaffen werden, damit die Menschen eine Alternative
haben und auf eine geschützte und normale Weise hier ankommen können. Und das geht
nicht im Augenblick von Libyen aus, sondern muss schon vor Libyen stattfinden.“ (rv
03.10.2014 pr)
Unser Foto zeigt Gegenstände, die in zurückgelassenen
Flüchtlingsbooten auf Lampedusa gefunden wurden. Sie sind Teil einer Ausstellung im
Migrationsmuseum von Lampedusa.