2014-07-07 16:29:58

Menschen in der Zeit: Die Richterin Angelika Nußberger


RealAudioMP3 Seit 2011 ist Angelika Nußberger, gebürtige Münchnerin, als eine von 47 Richterinnen und Richtern am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tätig. Die habilitierte Völkerrechtlerin gilt als herausragende Kennerin des Verfassungsrechts in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Sie sagt: „Der europäische Gerichtshof ist ein Schrittmacher für die europäischen Werte“. Aldo Parmeggiano wollte von Angelika Nußberger zunächst wissen, was die europäischen Werte sind.

„Nun, wir haben seit 1949 die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Und darin sind die verschiedenen Werte festgehalten. Das sind das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht, nicht unmenschlich behandelt und gefoltert zu werden, das Recht des privaten Familienlebens, der Meinungsfreiheit und der Religionsfreiheit, das Diskriminierungsverbot, das Recht auf Eigentum. Also sie sind im Einzelnen alle aufgezählt. Im Grunde geht es darum, den Menschen zu ermöglichen, ein individuelles, selbstbestimmtes Leben zu führen und Übergriffe des Staates abzuwehren.“

Es gibt das Göttliche Recht, das Naturrecht und das menschliche Recht. Was unterscheidet, was verbindet die drei Begriffe?

„Das sind Begriffe, die im Prinzip aus der Rechtsphilosophie stammen und die wir aus der Rechtsgeschichte kennen. Die Grundfrage, die dahintersteht, ist natürlich: Woher kommt das Recht und wer darf festlegen, was Recht ist und was Unrecht ist? Heute ist im Prinzip von staatsrechtlicher Seite allgemein anerkannt, dass wenn ein demokratisch gewählter Gesetzgeber Recht in einem rechtsstaatlichen Verfahren erlässt, dass es dann gültig ist. Es ist das, was Sie menschliches Recht nennen. Aber das Problem bei diesem Recht ist eben immer noch, dass, [auch] wenn der Gesetzgeber demokratisch gewählt wurde, es Unrecht sein kann. Und die Frage ist dann: Wie misst man das? – Wenn man nun vom göttlichen Recht spricht, dann nimmt man an, dass eben erkennbar ist, was eigentlich das wirkliche Recht sein sollte. Wenn man von Vernunftrecht oder Naturrecht spricht, dann nimmt man an, dass es mit der Vernunft erkennbar wäre, und wenn man sich auf das positive staatliche Recht stützt, dann geht man davon aus, dass eben jedes Staatswesen zunächst eine Verfassung erlässt und damit die Grundwerte festlegt und dann an diesen Grundwerten auch die einzelnen Gesetze gemessen werden können. Also: Diese Begriffe sind, wie gesagt, rechtsphilosophisch.“

Wie lautet eigentlich die rechtliche Definition der Menschenrechte?

„Es gibt in dem Sinn keine rechtliche Definition. Es gibt eine Vielzahl von solchen rechtlichen Verträgen, und da sind die Menschenrechte eben in unterschiedlicher Form festgelegt. Wenn Sie eine Definition wollen: Es geht immer um den Schutz des Einzelnen gegen den Staat, wobei der Staat eben zu einem Tun oder zu einem Unterlassen verpflichtet sein kann. Er kann auch verpflichtet sein, den Einzelnen gegen einen anderen zu schützen. Zum Beispiel strafrechtlich festzulegen, was nicht erlaubt ist, um den Schwächeren zu schützen. Also wie gesagt: keine allgemeine Definition, aber vom Grundsatz her eben der Schutz des Einzelnen gegen den Staat.“

Und wie lautet die philosophische Definition der Menschenrechte?

„Ja, auch da gibt es natürlich verschiedene Ansätze. Wenn man auf die Aufklärung und dann auf die französische Revolution zurückgeht, dann geht es im Prinzip darum zu sagen: Jeder Mensch hat auf Grund seines Menschseins bestimmte Rechte. Die bekommt er nicht von irgendjemandem oder vom Staat verliehen, sondern jeder Mensch hat, weil er Mensch ist, eine Vielzahl von Rechten, die ihm niemand nehmen kann. Das sind dem Menschsein inhärente Rechte.“

Und worin liegt der Unterschied zwischen den Grundrechten und den Menschenrechten?

„Ja, das ist nun im Prinzip die deutsche Terminologie, die jetzt in anderen Sprachen nicht unbedingt nachgezeichnet wird. Also bei uns spricht man von Grundrechten in der Regel in Bezug auf die deutsche Verfassung und von Menschenrechten dann allgemeiner in Bezug auf die Rechte, die in den internationalen Verträgen festgesetzt sind. Aber mir scheint, dass diese Terminologie nicht irgendwie festgelegt ist.“

Zur Menschenwürde - woher kommt dieser Begriff, kommt er aus der Religion, aus der Politik, aus der Justiz, aus der Philosophie?

„Ich würde denken, dass es grundsätzlich ein Begriff aus der Rechtsphilosophie ist. Dem deutschen Verständnis nach geht es eben darum, dass der Mensch selbst Subjekt ist und nicht Objekt. Daraus leitet sich alles Verhalten gegenüber dem Menschen ab. Er muss eben immer als Subjekt behandelt werden. In der deutschen Verfassungsrechts-Tradition wurde dies an den Anfang des Grundgesetzes gestellt: Die Würde des Menschen ist unverletzlich. Im Prinzip greift man bei der Auslegung zurück auf die Philosophie von Kant, auf eben dieses Subjektsein. Sie können es aber auch religiös deuten mit Blick auf die Gottes-Ebenbildlichkeit des Menschen. Ich würde sagen: im deutschen System ist diese Vorstellung der Menschenwürde auf Grund der geschichtlichen Erfahrungen, dass die Würde eben nicht geachtet wurde, besonders ausgeprägt. In anderen Rechtstraditionen spricht man nicht in dieser Intensität von Menschenwürde wie im Deutschen.“

Kann man sagen, die Menschenwürde wird heute von den Menschenrechten geschützt?

„Ja, das kann man sagen. Im Prinzip ist die Menschenwürde in diesem Sinne des Subjektseins immer das, was dahintersteht, hinter den einzelnen Schutzgarantien. In der Europäischen Menschenrechtskonvention finden Sie das Wort „Menschenwürde“ allerdings nicht. Sie finden nur das Verbot der unmenschlichen Behandlung, also quasi die Negativ-Version . Aber dennoch kann man sagen, dass die Menschenwürde hinter allen einzelnen Garantien steht.“

Ist denn der Geltungsanspruch der Menschenrechte universal? Das heißt - besteht ein Anspruch, dass die Menschenrechte für alle Menschen gelten? Und seit wann?

„Nun, der Geltungsanspruch ist universal. Es wurde bereits in der Aufklärung gefordert. Wenn Sie die französische Menschenrechtserklärung lesen, dann sehen Sie, dass auch dort dieser universelle Anspruch, also der über Frankreich hinausgehende, universelle Anspruch schon festgelegt wird. Völkerrechtlich gelten die Menschenrechte universell seit der allgemeinen Menschrechtserklärung von 1948 und dann in zwei verschiedenen universellen Pakten, die 1966 in Kraft getreten sind. Daran sind fast alle 200 Staaten gebunden, aber leider nicht alle. Also nicht alle haben sie ratifiziert. Dennoch geht man davon aus, dass sich Staaten wie Nordkorea, die diese Verträge nicht ratifiziert haben, völkergewohnheitsrechtlich daran gebunden sind, soweit dies zwingendes Recht ist – also Zwangsarbeit gilt eben als verboten, völkerrechtlich kann sich niemand dagegenstellen.“

Können Einzelpersonen – also Sie und ich –sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in privaten Angelegenheiten wenden?

„Ja, selbstverständlich. Das ist gerade wofür wir da sind. Diese 47 Richter, die Sie in Ihrer Einleitung erwähnt haben, sind für die Beschwerden von im Prinzip 820 Millionen Menschen europaweit zuständig. Jeder einzelne kann sich an den Gerichtshof wenden, allerdings nur, wenn er zuvor versucht hat, in seinem eigenen Staat Abhilfe zu finden. Also in Deutschland müssen Sie fast alle Gerichte angerufen haben, die in Ihrer Sache zuständig sind, bis zum Bundesverfassungsgericht. Und wenn Sie da keinen Erfolg hatten, können Sie nach Straßburg kommen.“

Gelten die Menschenrechte, Frau Nußberger, auch in Kriegszeiten? Ist es nicht so, dass Staaten oft nicht mehr in der Lage sind, die ihnen obliegenden Menschenrechtsverpflichtungen zu erfüllen, oder sie gar nicht erfüllen wollen?

„Grundsätzlich gelten Menschrechte auch in Kriegszeiten, denn die Bindung an den völkerrechtlichen Vertrag, in dem sie festgeschrieben sind, hört nicht auf im Krieg. Also wenn Sie denken an die kriegerischen Auseinandersetzungen in Tschetschenien – da war Russland an die Menschenrechte gebunden, oder auch das Vereinigte Königreich im Irak-Krieg. Theoretisch können diese Rechte abbedingt werden. Es gibt eine Klausel, dass man sagen kann, man sei jetzt nicht in der Lage, diese Rechte zu schützen. Man kann aber nicht alle Rechte abbedingen. Zum Beispiel: das Verbot der Folter kann man nicht abbedingen, auch nicht in Kriegszeiten. Im Übrigen gibt es für Kriegszeiten ein eigenes völkerrechtliches Subsystem, das ist das humanitäre Völkerrecht, das die zivilen Personen und die Militärangehörigen in besonderer Weise schützt.“

Und werden diese Rechte denn dann auch zum Beispiel in Somalia, Nigeria, in Nordkorea usw. überhaupt wahrgenommen?

„In diesen Ländern – das sind ja Staaten, in denen nichts funktioniert – spricht man von einem Staat, der nicht als Staat Funktionen übernehmen kann. Diese Staaten haben die Verträge nicht ratifiziert. Völkerrechtlich gelten sie in dem Sinne nicht, aber gewohnheitsrechtlich kann man sie trotzdem daran festhalten. Aber man muss natürlich die Geltung von der Durchsetzungsmöglichkeit unterscheiden: Auch wenn Recht gilt, ist es nicht immer möglich, das Recht durchzusetzen. Und es ist nicht möglich, es zu überprüfen. Gerichtlich überprüfbar eben durch einen Gerichtshof sind diese Rechte nur in Europa.“

Die internationalen Gremien der UNO und des Europarats prüfen also, ob sich die Vertragsstaaten an die Menschenrechte halten. Daraus lassen sich jedoch keine juristisch verbindlichen Verpflichtungen ableiten. Einzig die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte – an dem Sie tätig sind – sind für die Staaten verbindlich. Können Sie einige Beispiele dazu nennen?

„Völkerrechtliche Verträge sind natürlich immer verbindlich, auch wenn es dazu keine Einzelgerichtsentscheidungen gibt wie in Europa. Aber zu Einzelfällen: Wenn zum Beispiel beim Tschetschenienkrieg in Russland ein Flüchtlingszug aus Grozny aus der Luft bombardiert wurde, mit viel Opfern unter der Zivilbevölkerung – da hat der Gerichtshof hohen Schadensersatz für die Todesfälle festgelegt.“

Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterstehen sämtliche international anerkannten europäischen Staaten. Mit Ausnahme von Weißrussland und dem Vatikanstaat, da sie nicht Mitglieder des Europarats sind. Der Vatikan nimmt aber am Europäischen Gerichtshof einen Beobachterstatus ein. Wie schätzen Sie den Einfluss des Vatikans am Europäischen Gerichtshof ein?

„Ich kann den Einfluss des Vatikans nicht einschätzen, weil ich damit nicht in Verbindung komme. Ich nehme an, dass es Beobachter bei unseren Verhandlungen gibt, aber mit uns Richtern treten sie nicht in Verbindung.“

Sie sind aus Überzeugung und natürlich auch arbeitsbedingt eine begeisterte Europäerin. Die letzte Frage an Sie: Europae quo vadis?

„Eine große Frage, die uns alle sehr bewegt. Ich denke Europa zeichnet sich dadurch aus, dass es offen über alles spricht, dass es auch die Fragen, die uns bewegen, alle anspricht. Im Moment ist es vor allem die Tatsache, dass es viele rechtsextreme Parteien gibt, die voraussichtlich in Europa ihre Stimme deutlich erheben werden. Und es ist auch eine gewisse Europamüdigkeit zu erkennen, weil die Menschen nicht mehr sehen, welche Möglichkeiten und Vorteile ihnen ein friedliches, zusammengeschlossenes Europa bringt. Es gibt auch sicherlich bedauerliche Bürokratie und Fehlentwicklungen, aber ich würde doch sagen: Ich selbst glaube, dass Europa fähig ist, diese Probleme einzusehen und innovative, neue Wege zu finden. Ich bin positiv gestimmt und optimistisch.“

(rv 06.07.2014 ap)







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