Die islamistische
Rebellengruppe Isis ist weiter auf dem Vormarsch im Irak, das Land droht zu zerfallen.
Der Bonner Theologe und Orientalist Harald Suermann vom katholischen Hilfswerk missio
spricht im Interview mit Radio Vatikan von einer komplexen Lage im multiethnischen
Irak. Man könne den Ursprung des jetzigen Konflikts aber auch ganz simpel beschreiben:
„Es ist der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Zwei Gruppen, die sich
in Zeiten der Entstehung des Islams gebildet haben, in den ersten Jahren unter den
frühen Kalifen. Der Konflikt wird aber heute in einer anderen Schärfe ausgetragen,
vergleichbar mit einer Auseinandersetzung, wie wir sie gekannt haben zwischen Protestanten
und Katholiken. Ich halte diesen Vergleich durchaus für möglich: Wie im Dreissigjährigen
Krieg, kommt es auch hier zu einer langen Auseinandersetzung zwischen den islamischen
Konfessionen, wo jeder versucht, den anderen zu verdrängen oder gar zu vernichten.“
Fast
alle Iraker, ungefähr 34 Millionen Menschen, sind Muslime und gehören einer der beiden
Hauptrichtungen des islamischen Glaubens an. 80 Prozent der Bevölkerung sind Araber,
17 Prozent Kurden.
Die Mehrheit (rund 60 Prozent) sind schiitische Araber,
20 Prozent sunnitische Araber und fünfzehn Prozent sind sunnitische Kurden. Nach dem
Ende des Irak-Krieges kam es zu einem demokratischen Neubeginn, aber nie zu einer
Aussöhnung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Der multiethnische Staat wird
von der schiitisch dominierten Regierung Nuri al Malikis geführt. Die Rebellengruppe
Isis hingegen will einen sunnitischen, islamischen Staat.
„Die Bezeichnung
Isis, Islamischer Staat im Irak und Syrien, ist ein Name, der auf das Projekt abzielt,
einen gemeinsamen Staat herzustellen, den es früher einmal gab. Das, was wir heute
haben im Irak und in Syrien, ist ja ein Kunststaat, der nach dem Verfall des Osmanischen
Reichs durch die Westmächte errichtet worden ist. Hier geht es also darum, das Abkommen,
das die Westmächte damals geschlossen haben, nicht anzuerkennen, sondern einen gemeinsamen
sunnitischen Staat zu errichten. Das umfasst nicht nur Syrien im heutigen Sinn, sondern
ein Gebiet, welches deutlich über die Grenzen hinausgeht. Es umfasst also auch Teile
von Jordanien und dem Libanon - ein Großsyrien, wo eben die Sunniten sind.“ Die
Angehörigen der Isis-Terrorgruppe sind Unzufriedene: Sie wollen ihren eigenen Staat
und kämpfen gegen die Unterdrückung der Sunniten, gegen die Regierung von Nuri al
Maliki, der sich nach Suermanns Einschätzung nur für einen schiitischen Staat, aber
nie für eine gemeinsame Nation eingesetzt hat. „Wir haben sowohl in
Syrien ein nichtsunnitisches Regime, nämlich die Alawiten, als auch im Irak: Dort
liegt die Macht bei den Schiiten. Sie möchten einen schiitischen Staat aufbauen. Einen
Staat, der nach Scharia-Recht regiert werden soll. Wir haben sowohl in Syrien wie
im Irak einen Aufstand der Sunniten.“ Die Städte Tal Afar und Mossul
sind bereits von ISIS eingenommen worden. Kämpfe gibt es auch in Bakuba , 60 Kilometer
von der Hauptstadt Bagdad entfernt. Die Terrorkrieger kommen der Hauptstadt immer
näher. Isis hat Bilder von Massenhinrichtungen irakischer Soldaten veröffentlicht;
obwohl ihre Echtheit der Bilder noch nicht bestätigt wurde, ist der mediale Effekt
enorm.
„Gräuel zu verbreiten ist eine Taktik. Und da werden sie
sicher menschenverachtende Gräueltaten begangen haben. Das ist keine Frage. In welchem
Umfang - das ist die Frage, und ob man hier nicht übertreibt, um noch mehr Schrecken
zu verbreiten.“ „Es ist einfacher, so ein Haus zu
zerstören“
In dem multiethnischen Irak müssen andere
Religionen und Stämme jetzt selber sehen, wo sie hingehören. Die Kurden profitieren
laut Suermann von der neuen Situation. Sie haben eine gut ausgebildete Miliz, und
sie kommen ihrem Traum vom eigenen Staat, den sie seit dem Fall des Osmanischen Reiches
haben, ein wenig näher. Schlechter ist seiner Meinung nach die Lage der Christen.
Sie würden gerne in die Region von Ninive zurückkehren, doch unter Isis werde dies
nicht möglich sein, meint Suermann.
„Auch wenn sie nach den islamischen
Vorstellungen ein Lebensrecht haben und sich nach islamischen Regeln richten, die
für die Christen vorgesehen sind, dann können sie dort nicht leben. Ich glaube nicht,
dass sie sich auf diese Versprechen einlassen können, sondern dass sie weiterhin in
die kurdischen Autonomiegebiete flüchten werden.“ Eine Lösung in diesem
Konflikt gebe es noch lange nicht. Mit gewissen militärischen Mitteln müsse man Isis
stoppen, und die Politik des Premiers müsste sich ändern, so der Experte von missio;
doch eine Versöhnung innerhalb der irakischen Bevölkerung sei nicht von außen möglich.
Das könnten nur Sunniten und Schiiten , wahrscheinlich nach langen und schmerzvollen
Erfahrungen, selber bewerkstelligen.
„Es ist schwieriger, ein Haus
zu bauen, in dem alle zusammen leben können, friedlich nebeneinander mit ganz unterschiedlichen
Vorstellungen; es ist sicherlich einfacher, so ein Haus zu zerstören.“