2014-05-31 17:47:29

Unser Buchtipp: Buch des Flüsterns


RealAudioMP3 Varujan Vosganian: Buch des Flüsterns. Eine Besprechung von Stefan v. Kempis.

Ein erstaunliches Buch: Da hat tatsächlich der frühere Finanz- und Wirtschaftsminister von Rumänien ein Epos geschrieben, das an Franz Werfels Klassiker „Musa Dagh“ anknüpft! Es geht um das Schicksal der Armenier, um Vernichtung und Entkommen, Geschichten um Leben und Tod, die über die Jahrzehnte im Flüsterton weitergegeben wurden, darum „Buch des Flüsterns“. Der Ich-Erzähler pflegt in seiner Kindheit eine Briefmarkensammlung, gefüllt dank der Briefe von Familienangehörigen, welche durch die Wirren des 20. Jahrhunderts über die ganze Welt verstreut sind. Aus der ganzen Welt bekommt er Briefmarken, nur nicht aus der Türkei: „In jenem Land gab es niemanden, dem ich hätte schreiben können, denn es gab dort niemanden mehr, der geantwortet hätte.“ Das ist nur ein einprägsames Bild von vielen für das große Sterben der Armenier in der Türkei.

„Alle zur Ermordung der Armenier auf den Wegen Anatoliens ... benutzten Methoden wurden später von den Nazis gegen die Juden angewandt“, schreibt Vosganian: „Allein, dass in den nationalsozialistischen Lagern die Gefangenen Nummern trugen, und diese makabre Zählung die Verbrechen am jüdischen Volk noch grausamer erscheinen ließ.“ Die Armenier starben buchstäblich „ungezählter“: „Die Namen, die wir kennen, sind die der Henker.“ Hier setzt der Autor an und gibt den Opfern durch ein ganzes Netz von Geschichten ihre Namen und ihre Gesichter wieder.

Ein armenisches ‚Yad Vashem’ aus Erzählungen. Viele davon sind gleichzeitig komisch und beklemmend: etwa wenn sich armenische Dorfbewohner in einer leeren Familiengruft treffen, um von kommunistischen Spitzeln unbelauscht über Kennedys Ermordung zu sprechen, während der Pfarrer draußen, mit Weihrauchfass in der Hand, Schmiere steht. Oder wenn in einem armenischen Konsulat auch nach dem Untergang des armenischen Staates einfach jahrzehntelang weitergemacht wird, Dossiers geschrieben, Stempel auf Dokumente gedrückt werden. Poetisch ist die Schilderung, wie der Großvater den jungen Ich-Erzähler mit in die frisch gestrichene Kirche nimmt, um sie mit einem Lied auf seiner Geige praktisch neu einzuweihen. „Die Töne drangen in den Putz; dieser vergilbt ein klein bisschen. Die Wände nahmen es auf, sie waren nicht mehr so bleich, hatten Leben gewonnen.“

„Obwohl es meistens von der Vergangenheit erzählt, ist dieses Buch kein Geschichtsbuch, denn in den Geschichtsbüchern wird hauptsächlich von den Siegern berichtet; dieses ist viel eher eine Sammlung von Psalmen, denn es erzählt von den Besiegten.“ Zahlreich sind die Anklänge ans Biblische. Eine Frau, die mit einem Todesmarsch bis ins Lager Deir-ez-Zor gekommen ist, wähnt die „Grenze zum Garten Eden“ ganz nahe: „Nur zwei Schritte weiter ist die Himmelspforte. Wir sind dahin zurückgekehrt, wo wir am Anfang aller Zeiten aufgebrochen waren. Aber in der Zwischenzeit ist die Welt ganz und gar verdorben. Vielleicht werden sie die Welt neu beginnen und einen anderen Gott erschaffen.“

Ein großes Buch von geradezu biblischem Aplomb: Märchen und Klagegesang, Geschichts- und Geschichtenbuch, Drama und Vaudeville. „Erst später sollte ich erfahren, dass man zumeist zwischen zwei Übeln zu wählen hat“, lautet eine der Lektionen des Autors. „So war es ganz oft in der Geschichte der Armenier; umzingelt von allerlei Feinden, die nach ihrem Grund und Boden trachteten, von den Assyrern, Babyloniern, Medern, Persern, Parthern und Römern bis zu den Arabern, Tataren, Türken, Kurden und Russen, hatten die Armenier nicht zwischen Freund und Feind zu wählen, sondern zwischen Feinden, mit denen man sich verbünden konnte, und Feinden, gegen die man kämpfen musste. Schließlich zeigte sich, dass es kein besseres Böses gibt und die Wahl zwischen zwei Übeln einem keine Chance lässt.“

Zsolnay Verlag, ca. 26 Euro.

(rv 30.05.2014 sk)








All the contents on this site are copyrighted ©.