Varujan Vosganian:
Buch des Flüsterns. Eine Besprechung von Stefan v. Kempis.
Ein erstaunliches
Buch: Da hat tatsächlich der frühere Finanz- und Wirtschaftsminister von Rumänien
ein Epos geschrieben, das an Franz Werfels Klassiker „Musa Dagh“ anknüpft! Es geht
um das Schicksal der Armenier, um Vernichtung und Entkommen, Geschichten um Leben
und Tod, die über die Jahrzehnte im Flüsterton weitergegeben wurden, darum „Buch des
Flüsterns“. Der Ich-Erzähler pflegt in seiner Kindheit eine Briefmarkensammlung, gefüllt
dank der Briefe von Familienangehörigen, welche durch die Wirren des 20. Jahrhunderts
über die ganze Welt verstreut sind. Aus der ganzen Welt bekommt er Briefmarken, nur
nicht aus der Türkei: „In jenem Land gab es niemanden, dem ich hätte schreiben können,
denn es gab dort niemanden mehr, der geantwortet hätte.“ Das ist nur ein einprägsames
Bild von vielen für das große Sterben der Armenier in der Türkei.
„Alle zur
Ermordung der Armenier auf den Wegen Anatoliens ... benutzten Methoden wurden später
von den Nazis gegen die Juden angewandt“, schreibt Vosganian: „Allein, dass in den
nationalsozialistischen Lagern die Gefangenen Nummern trugen, und diese makabre Zählung
die Verbrechen am jüdischen Volk noch grausamer erscheinen ließ.“ Die Armenier starben
buchstäblich „ungezählter“: „Die Namen, die wir kennen, sind die der Henker.“ Hier
setzt der Autor an und gibt den Opfern durch ein ganzes Netz von Geschichten ihre
Namen und ihre Gesichter wieder.
Ein armenisches ‚Yad Vashem’ aus Erzählungen.
Viele davon sind gleichzeitig komisch und beklemmend: etwa wenn sich armenische Dorfbewohner
in einer leeren Familiengruft treffen, um von kommunistischen Spitzeln unbelauscht
über Kennedys Ermordung zu sprechen, während der Pfarrer draußen, mit Weihrauchfass
in der Hand, Schmiere steht. Oder wenn in einem armenischen Konsulat auch nach dem
Untergang des armenischen Staates einfach jahrzehntelang weitergemacht wird, Dossiers
geschrieben, Stempel auf Dokumente gedrückt werden. Poetisch ist die Schilderung,
wie der Großvater den jungen Ich-Erzähler mit in die frisch gestrichene Kirche nimmt,
um sie mit einem Lied auf seiner Geige praktisch neu einzuweihen. „Die Töne drangen
in den Putz; dieser vergilbt ein klein bisschen. Die Wände nahmen es auf, sie waren
nicht mehr so bleich, hatten Leben gewonnen.“
„Obwohl es meistens von der Vergangenheit
erzählt, ist dieses Buch kein Geschichtsbuch, denn in den Geschichtsbüchern wird hauptsächlich
von den Siegern berichtet; dieses ist viel eher eine Sammlung von Psalmen, denn es
erzählt von den Besiegten.“ Zahlreich sind die Anklänge ans Biblische. Eine Frau,
die mit einem Todesmarsch bis ins Lager Deir-ez-Zor gekommen ist, wähnt die „Grenze
zum Garten Eden“ ganz nahe: „Nur zwei Schritte weiter ist die Himmelspforte. Wir sind
dahin zurückgekehrt, wo wir am Anfang aller Zeiten aufgebrochen waren. Aber in der
Zwischenzeit ist die Welt ganz und gar verdorben. Vielleicht werden sie die Welt neu
beginnen und einen anderen Gott erschaffen.“
Ein großes Buch von geradezu
biblischem Aplomb: Märchen und Klagegesang, Geschichts- und Geschichtenbuch, Drama
und Vaudeville. „Erst später sollte ich erfahren, dass man zumeist zwischen zwei Übeln
zu wählen hat“, lautet eine der Lektionen des Autors. „So war es ganz oft in der Geschichte
der Armenier; umzingelt von allerlei Feinden, die nach ihrem Grund und Boden trachteten,
von den Assyrern, Babyloniern, Medern, Persern, Parthern und Römern bis zu den Arabern,
Tataren, Türken, Kurden und Russen, hatten die Armenier nicht zwischen Freund und
Feind zu wählen, sondern zwischen Feinden, mit denen man sich verbünden konnte, und
Feinden, gegen die man kämpfen musste. Schließlich zeigte sich, dass es kein besseres
Böses gibt und die Wahl zwischen zwei Übeln einem keine Chance lässt.“