Ein Roman von Colm Tóibín. Eine Besprechung von Stefan von Kempis.
„Marias
Testament“: Ein Roman, den ich überhaupt nicht empfehlen kann - und andererseits doch
sehr empfehle. Das muss ich wohl erklären. Tóibín, preisgekrönter Ire, zeichnet in
dem schmalen Bändchen eine verhärmte, desillusionierte Maria am Ende ihres Lebens.
In Ephesus erzählt sie Petrus und Johannes, die sie besuchen, nur ungern, wie sie
das damals erlebt hat mit ihrem Sohn Jesus; den Namen spricht sie ihnen gegenüber
nicht aus. Sie hat vom Kreuzestod ihres Sohnes ein tiefes Trauma zurückbehalten, schämt
sich dafür, dass sie sich damals auf Golgotha aus dem Staub gemacht hat, um nicht
verhaftet zu werden; geht kaum aus dem Haus, und wenn doch, dann zu einem kleinen
Artemis-Tempel, wo sie einen merkwürdigen inneren Frieden fühlt. „Wenn ihr sagt, dass
er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war“, denkt diese –
ja doch, seltsame Muttergottes. Also: nicht zu empfehlen.
Oder eben doch zu
empfehlen. Denn diese aus christlicher Sicht verzeichnete Madonna ist eine in sich
schlüssige Figur – und gerade in der Verzeichnung wird der ganze Ernst von Golgotha,
der Schock und Skandal des Kreuzes, spürbar wie kaum je. Sieht man genauer hin, dann
leuchtet hinter Marias Harm eben doch das ganze Geheimnis Jesu auf: wie er von seinem
himmlischen Vater spricht, wie er Brote vermehrt und Tote erweckt. Vor allem die Auferweckung
des Lazarus wird von Tóibín als Gegenstück oder Vorbote der Kreuzigung Jesu entwickelt.
Der Autor nähert sich dieser Heils- und Unheilsgeschichte mit tiefem Ernst, von einer
ungewöhnlichen Seite. Damit hat er ihr etwas Neues abgewonnen, über das sich – erst
recht in den Kartagen – nachdenken, meditieren, beten lässt.