Die Mehrheit der Ukrainer
ist zu politischen Reformen bereit, auch wenn diese schmerzhaft sind. Das bekräftigt
der Kiewer Caritaspräsident Andrij Waskowycz im Interview mit Radio Vatikan. Nachdem
Russland seine Nothilfen für das Land ausgesetzt hat, wird die Ukraine allerdings
von akuter Finanznot heimgesucht. Vor diesem Hintergrund habe die Kiewer Übergangsregierung
unter Führung von Arsenij Jazenjuk bereits „einschneidende Maßnahmen“ angekündigt,
berichtet Waskowycz:
„Die Bevölkerung, die gesamte Gesellschaft muss den
Gürtel enger schnallen, Reformen müssen durchgeführt werden, die wirklich jeden betreffen,
z.B. wegen der Erhöhung der Gaspreise, die auch umgelegt werden muss auf die Bevölkerung.
Das sind einschneidende Maßnahmen in einem Land, das zu den ärmsten Europas gehört.
Die Zustimmung zu den Worten des Premierministers in dem Augenblick, wo er von diesen
Notwendigkeiten sprach, ging bis zu 75, 80 Prozent! Das heißt, die Menschen verstehen,
dass jetzt einschneidende politische Reformen kommen müssen, dass sich etwas verändern
muss, und sie sind bereit, es mitzutragen, wenn dadurch neue Perspektiven für das
Land eröffnet werden.“
Waskowycz bezieht sich bei diesen Zahlen auf eine
repräsentative Zuschauerbefragung in einer ukrainischen Fernsehsendung. Dass die ukrainische
Bevölkerung Missstände in ihrem Land wie etwa die Korruption nicht mehr länger hinnehmen
will, beobachtet er schon länger. Hier sei im Laufe der Proteste ein neues Bürgerbewusstsein
entstanden, das von der Basis der Gesellschaft ausgehe:
„Ich glaube, die
heutige Revolution in der Ukraine, die Bewegung, die zu den jüngsten Ereignissen geführt
hat, unterscheidet sich von der orangenen Revolution von 2004 dadurch, dass sie nicht
auf die Führungselite konzentriert ist, sondern eine Bewegung von unten her ist. Das
bedeutet, dass die Menschen heute erkannt haben, dass es von ihnen abhängt, wie sich
das Land entwickelt, dass sie Teil eines politischen Prozesses sind und dass sie
Verantwortung übernehmen müssen. Das bedeutet, dass sie Veränderungen wollen und dass
sie heute auch bereit sind, die Regierung zu kontrollieren; dass sie bereit sind oder
zumindest versuchen, gegen die Korruption im Lande anzukämpfen.“
Dass dieser
Prozess nicht einfach ist, wüssten die Menschen im Land sehr wohl, betont der Caritas-Präsident.
Die Herausforderungen, vor denen die Ukraine steht, sind groß: Neben einer Lösung
für die wirtschaftliche Notlage muss eine neue politische Führung gefunden werden,
die demokratisch legitimiert ist – am 25. Mai wird immerhin schon einmal ein neuer
Präsident gewählt –, und das Tauziehen mit Russland um die Krim führt zusätzlich zu
inneren Spannungen. Eines wisse die Bevölkerungsmehrheit aber ganz sicher, so der
Caritas-Direktor: Hinter die Annäherung an die Europäische Union führe kein Weg mehr
zurück. Dafür habe man schließlich auf dem Maidan gekämpft.
„Die Proteste,
die entstanden, als die (alte, Anm.) ukrainische Regierung diesen Weg eingefroren
hat (…), die Reaktionen darauf waren: Uns wird die Perspektive genommen, uns zu entwickeln,
uns zu reformieren. Durch die Assoziierung hatte sich ein Weg innerer Reformen geöffnet,
ein Weg der Bekämpfung der Korruption, der Transparenz in der Politik, der durchsichtigen
Wirtschaftspolitik und der Unmöglichkeit, den Staatshaushalt zu rauben. Eine der größten
Quellen des Reichtums der Oligarchen und der politischen Elite in der Ukraine ist
ja der Zugang zum Staatshaushalt und zu korrupten Schemata.“
Auf dem Maidan
in Kiew werde immer noch demonstriert, erzählt Waskowycz. Die Leute wollten noch bis
zu den Präsidentschaftswahlen durchhalten. Gewalt gebe es zum Glück keine mehr, so
der Caritas-Chef, die Lage sei „stabil“. Die Caritas kümmere sich weiter um die Opfer
der Februar-Proteste auf dem Maidan und ihre Angehörigen:
„Wir haben Programme
aufgelegt und sind dabei, sie ins Werk zu setzen - Hilfe für die Verletzten des Maidan,
für die Verletzten der Polizeigewalt. Wir versuchen, den Familien Hilfe zu leisten;
wir haben eine erste Bestandsaufnahme gemacht, um zu sehen, wie viele Leute Hilfe
brauchen. Wir versuchen, soziale Programme für sie zu entwickeln, versuchen, sie zu
begleiten, und wollen auch weiter reichende Hilfe anbieten. Das heißt, wir wollen
für diese Leute auch da sein, wenn die mediale Aufmerksamkeit jetzt etwas zurückgeht.“