Das Augenmerk der
Weltöffentlichkeit liegt auf der Krim; dabei gerät eine Geschichte in den Hintergrund,
die direkt davor stattgefunden hat und mit dem Namen des Hauptplatzes in der Hauptstadt
Kiew, dem Maidan, verbunden wird: wochenlange Proteste mit über achtzig Toten, die
zuletzt im Sturz der Regierung und des Präsidenten mündeten. Während nun die Welt
über die Absichten des russischen Präsidenten Putin rätselt, muss die Gesellschaft
der Ukraine fertig werden mit den Ereignissen: Seit Ende November 2013 war auf dem
Platz im Zentrum demonstriert worden, zuletzt mit über einer halben Million Menschen,
Proteste, die dann in einen Bürgerkrieg zu eskalieren drohten, bis Präsident Viktor
Janukowitsch die Flucht ergriff.
Andrij Waskowycz ist Präsident der Caritas
Ukraine. Er sieht grundsätzlich einen Erfolg der Proteste, aber mit Blick auf die
Toten beschleichen ihn doch Zweifel.
„Das sind sehr hohe Kosten... aber
die Menschen, die auf dem Maidan gestanden haben, die standen dort mit großer Entschlossenheit
und mit Mut, weil sie Veränderungen für ihr Land wollten und weil sie verhindern wollten,
dass das Land sich in eine langjährige Diktatur verwandelt, dass eine Clique von eigentlich
verbrecherischen Politikern an der Macht bleibt.“
Die Caritas kümmert sich
nun um die langfristigen Folgen, besonders um die, die durch die Proteste und die
Toten entstanden sind: Traumata und andere Verletzungen, die verarbeitet werden wollen.
Aber was für die Einzelnen gilt, kann auch über die gesamte Gesellschaft gesagt werden.
„Die
Ereignisse der letzten vier Monate, die Ereignisse des letzten halben Jahres haben
das Land sehr stark verändert. In der Gesellschaft ist ein neues Bewusstsein zutage
getreten. Und im Zentrum dieser Bewusstseinsveränderung steht, dass die Menschen verstanden
haben, dass sie selbst Verantwortung übernehmen müssen für die Gestaltung ihres Lebens,
aber auch für die Gestaltung ihrer Gesellschaft. Der Maidan war meines Erachtens keine
Demonstration gegen eine Regierung, gegen korrupte Machthaber. Der Maidan war eine
Demonstration für positive Werte, für Werte, die die Menschen verwirklicht sehen wollen
in ihrer Gesellschaft. Und das ist erstaunlich: Wenn man diese Werte, die auf dem
Maidan besprochen wurden, für die die Menschen eingestanden sind, analysiert, sind
das die Werte, die in der christlichen Soziallehre vorkommen, die die Basis der christlichen
Soziallehre bilden. Werte wie Solidarität, wie Subsidiarität, wie Gemeinwohl.“
Internationale
Hilfe für die Ukraine sei schwer zu bekommen, die Ereignisse um den Maidan wie auch
die Krise um die Krim hätten das gezeigt, so Waskowycz.
„Wir haben sowohl
während des Maidan als auch jetzt gesehen, dass der Westen ziemlich langsam reagiert
und es leider zum Blutvergießen kommen muss, damit der Westen reagiert. Wir glauben,
dass die Sanktionen gegenüber Russland ein Mittel sind, um Russland sozusagen zur
Vernunft zu bringen; um zu zeigen, dass die Kosten einer solchen Politik sehr hoch
sein können. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Das Problem ist nur, dass die Europäische
Union nicht mit einer Stimme spricht, sondern sehr stark an ihre eigenen Interessen
denkt und deswegen nicht radikal genug Russland signalisiert, dass eine aggressive
Politik seitens Russland große Konsequenzen haben wird für die Russische Föderation.“
In
Deutschland hat der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Diskussion genau dazu
entfacht, er hält in einem Beitrag für die Zeitung Die Zeit Sanktionen für „dummes
Zeug“ und Präsident Wladimir Putins Verhalten für „verständlich“, Politiker aller
Lager widersprechen ihm nun. Für den Caritasdirektor Waskowycz zählt aber vor allem
etwas anderes.
„Es ist etwas Erstaunliches: Die Bereitschaft heute zu Veränderungen
ist sehr, sehr groß, die Bereitschaft, die Altlasten der Sowjetunion abzuwerfen, ist
sehr, sehr groß in der Gesellschaft. Vor allem die Jugend will nicht mehr diesen sowjetischen
Geist mittragen. Die Menschen wollen nach anderen Prinzipien leben, und sie akzeptieren
es nicht, dass ein Obrigkeitsstaat, ein korruptes System den Weg dieses Landes bestimmen
soll.“
Das Interview mit Andrij Waskowycz führte Nicole Stroth vom Erzbistum
Freiburg.