Ukraine: „Das ist ein Machtkampf, kein Bürgerkrieg“
Die Zahl der Toten
in der Ukraine steigt: nachdem ein Waffenruheabkommen zwischen Demonstranten und Behörde
am Mittwochabend kläglich gescheitert ist, sind die Kämpfe in der gesamten Ukraine
wieder aufgeflammt. Es sei jedoch kein Bürgerkrieg im Gange, sagt im Gespräch mit
Radio Vatikan der Direktor von Caritas Ukraine, Andrij Waskowicz.
„Es ist
eine inner-ukrainische Auseinandersetzung, aber es ist kein Bürgerkrieg. Ein Bürgerkrieg
bedeutet, dass es immer auf der einen Seite des Volkes Menschen gibt, die eine bestimmte
Position verteidigen und auf der anderen Seite eine andere Position vertreten. Die
Trennlinie in der Ukraine ist aber nicht zwischen zwei Seiten des Volkes – sei es
nach einer geographischen oder ideologischen Teilung – hier geht es um einen Konflikt
der Machthaber mit dem Volk. Die Regierung des Präsidenten ist über Monate hinweg
nicht auf die Forderungen des Volkes eingegangen. Es wurde mehr als 60 Tage lang friedlich
demonstriert. Die Regierung hat es zugelassen, dass es zu einem Konflikt gekommen
ist.“
Dieser Machtkampf habe nun zu einer chaotischen Situation geführt,
so der Caritas-Direktor. Wir haben mit ihm am Donnerstagmittag gesprochen und die
Lage von seinem Büro in Kiew aus gesehen sah folgendermaßen aus:
„Die Situation
ist mehr als angespannt. Seit heute Morgen gibt es mehr als zehn Tote, man spricht
sogar von zig Toten, die auf dem Unabhängigkeitsplatz in der ukrainischen Hauptstadt–
dem Maidan – gezielt getötet wurden. Man spricht davon, dass es die Opfer gezielt
auf den Kopf und in die Brust geschossen wurden. Es scheinen, Scharfschützen auf den
Dächern um den Maidan herum postiert zu sein. Die Situation gerät außer Kontrolle.
Man weiß nicht, wer die einzelnen bewaffneten Kräfte kontrolliert und dirigiert. Es
sind scheinbar Attacken seitens der Sondereinheiten, die auf die Demonstranten geschossen
haben. Von Seiten der Demonstranten gibt es eine Gegenwehr. Es wird vermutet, dass
auch teilweise von Seiten der Demonstranten Provokateure eingeschleust wurden, um
die Situation in der Ukraine zu destabilisieren.“
Es scheine, dass es überhaupt
kein Dialog zwischen den Demonstranten und den Machthabern gebe, so Waskowicz von
der Caritas Ukraine.
„Wir sehen auch keine Tendenz, dass es zu einer Waffenruhe
kommen könnte. Im Gegenteil, es ist derzeit eine Eskalation der Gewalt im Gange. Es
ist umso erstaunlicher, dass in diesem Augenblick drei Außenminister von EU-Staaten
sich in der Ukraine befinden. Es scheint für viele Kräfte der Opposition, dass das
Regime in Kiew dies organisiert hat, damit man beweist, dass diese Gewaltbereitschaft
von Seiten der Demonstrierenden sei.“
Die Kirchen könnten eine Schlüsselrolle
spielen, um dem Konflikt ein Ende zu setzen. Einziger Ausweg sei eine Roadmap, in
der das ukrainische Parlament wieder jene Kompetenzen erhalte, die sie 2004 hatte
und die Macht des Staatspräsidenten eingeschränkt werde. Dies sei auch der Wunsch
vieler Ukrainer gewesen, die sich eine Annäherung zur EU erhofften. Denn mit dem sogenannten
Assoziierungsvertrag mit der EU dachten viele, dass ihr Land „demokratischer“ werde.
„Und
wenn man sich diese Grundlage analysiert, so hat dies sehr viel zu tun mit den Prinzipien
der katholischen Soziallehre – also den Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität,
also ein Verständnis des Gemeinwohls. Diese Perspektive wurde durch den Abbruch des
europäischen Kurses der Regierung verschlossen. Das hat die Menschen auf die Straßen
gebracht. Inzwischen ist es zu einem Konflikt geworden zwischen den Menschen und den
Machthabern, die eine andere Vorstellung haben vom Weg der Ukraine.“