Keine Gewalt – mit
diesem Appell versuchen die Kirche in der Ukraine die aufgebrachten Demonstranten
zu beschwichtigen und weiteres Blutvergießen zu verhindern. Eine noch größere Eskalation
der Gewalt könne „zu noch tragischeren Konsequenzen führen“, warnte Großerzbischof
Swjatoslaw Schewtschuk, das Oberhaupt der Ukrainischen griechisch-katholischen Kirche,
laut Medienberichten. Ähnlich äußerte sich die Leitung der Ukrainisch-orthodoxen Kirche
des Kiewer Patriarchates.
Hunderttausende Befürworter einer EU-Annäherung
waren am Wochenende in dem Land auf die Straße gegangen. Sie forderten den Sturz von
Präsident Viktor Janukowitsch. Schwere Krawalle überschatteten am Sonntag die Demonstrationen
im Zentrum von Kiew, Sicherheitskräfte hatten massiv Tränengas und Blendgranaten gegen
Randalierer eingesetzt. Dabei seien insgesamt mindestens 165 Menschen verletzt worden,
darunter auch Journalisten, teilten die Behörden der Ex-Sowjetrepublik mit. Die Wurzeln
der aktuellen Krise reichen tief. Das betont Bischof Borys Gudziak von der Ukrainischen
griechisch-katholischen Kirche im Gespräch mit Radio Vatikan. Der heute in Paris residierende
Geistliche leitete ehemals die Ukrainische Katholische Universität von Lemberg.
„Ich
tue nicht so, als wäre ich ein Prophet. Es ist schwer, vorherzusagen, wie die Dinge
hier ausgehen werden. Die Wurzeln der aktuellen Krise sind tiefgehend: Die Ukraine
ist eine post-totalitäre, post-genozidale und eine post-koloniale Gesellschaft und
Nation. Es ist klar, dass bei den jüngsten Entwicklungen der Druck von Russland vorherrschend
war.“
Die tieferen Gründe der Auseinandersetzung
Am meisten
fürchteten die Menschen jetzt, dass es von russischer Seite einen militärischen Eingriff
geben könnte, so der Bischof weiter. Die Kirche bete in der aktuellen Lage dafür,
dass die Situation nicht eskaliere. In der Ukraine gebe es ein breites Drängen für
Frieden und Gerechtigkeit, versichert Gudziak. Die Vereinigung mit Europa würde seiner
Ansicht nach zumindest in einigen Bereichen Verbesserung bringen, etwa bei der Korruptionsbekämpfung.
Die Bevölkerung wolle heute einen Schlussstrich unter die schwere Vergangenheit des
Landes setzten, so der Bischof weiter.
„Jahrhunderte lang hatten die Ukrainer
nichts und es war ihnen verboten, sie selber zu sein, sie waren politisch nicht frei,
ihre Kultur wurde unterdrückt, ihre Sprache verboten, ihre Kirchen waren illegal.
Deshalb sind sie sehr traumatisiert von dieser vergifteten Vergangenheit. Die Hoffnung
der jungen Generation ist, dass ein neues Kapitel der Geschichte geschrieben werden
kann: Ein Kapitel des Friedens, der Gerechtigkeit und des Aufschwungs.“
Von
diesem Geist der jungen Leute und ihrer Hoffnung seien viele angesteckt worden, deshalb
habe es auf die Angriffe gegen die Demonstranten so eine starke Reaktion gegeben,
erklärt Gudziak.
„Die Kirchen setzen sich dafür ein, dass die Regierung
keine Streitmacht einsetzt, und sich nicht von den Stimmen beeinflussen lässt, die
sagen, dass Macht mit Gewalt erhalten werden müsse. Wir hoffen, dass das Gewissen
der Menschen an der Macht zu ihnen sprechen wird und dass die Gerechtigkeit erhalten
bleibt.“
Entzündet hatten sich die Demonstrationen daran, dass Präsident
Janukowitsch auf dem EU-Gipfel zur östlichen Partnerschaft seine Unterschrift unter
ein weitreichendes Abkommen mit der EU verweigert hatte. Zuvor hatte Russland dem
Nachbarland mit massiven Handelssanktionen gedroht. Der Wunsch der Leute Teil der
EU zu sein, entspreche einer tieferen Sehnsucht nach Werten, die es bei der jahrzehntelangen
Unterdrückung nie gab, meint Bischof Gudziak:
„Die Menschen haben von Generation
zu Generation in Ungerechtigkeit gelebt. Und jetzt suchen sie heute diese Gerechtigkeit,
diesen Frieden, sie wollen Demokratie. Und die plötzliche Verneinung der Möglichkeit,
der EU beizutreten, nach all den Jahren der Vorbereitungen dafür, das zeigt der jungen
Generation, dass sie von diesen Autoritäten keine Gerechtigkeit erhalten wird und
deshalb protestieren sie gegen sie.“
Etwa 5.000 Menschen harrten auch
in der Nacht zum Montag im Zentrum von Kiew aus. Sie errichteten auf dem zentralen
Unabhängigkeitsplatz Majdan zahlreiche Zelte und auch Barrikaden. Ein Sprecher der
Opposition um Boxweltmeister Vitali Klitschko kündigte zudem am Montagmorgen neue
Blockaden an. Parlamentspräsident Wladimir Rybak bot den Fraktionen unterdessen einen
Runden Tisch an: Mitglieder sowohl der Regierung als auch der Opposition sollen den
brutalen Polizeieinsatz in der Nacht auf Samstag aufklären, bei dem eine Sondereinheit
EU-Befürworter auf dem Majdan niedergeknüppelt hatte.