Norbert Lammert wurde
vor 65 Jahren in Bochum geboren. Er ist seit 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages
und seit 2005 dessen Präsident. Am 22. Oktober diesen Jahres wurde er zum dritten
Mal für dieses zweithöchste Amt im Staat wiedergewählt, mit 95% der Stimmen. Er ist
Mitglied der CDU und dennoch bei allen Parteien anerkannt. Er ist ein bekennender
Katholik und Vater von vier Kindern. Und er feiert am kommenden 16. November seinen
65. Geburtstag.
Herzlichen Glückwunsch, Herr Bundestagspräsident und vielen
Dank für Ihre Bereitschaft zum folgenden Gespräch in unserer Sendereihe ‚Menschen
in der Zeit’. Fangen wir von ganz vorne an: wie würden Sie im Rückblick Ihre Jugendzeit
beschreiben: als schwierige, als ungetrübte, als problematische, als eine besonnene,
lebensfrohe Zeit?
„Jedenfalls habe ich überhaupt keinen Anlass, mich zu
beklagen. Ich bin in einer intakten großen Familie aufgewachsen als ältestes von sieben
Geschwistern in einem Handwerkshaushalt. Das hat unter dem einem wie dem anderen Gesichtspunkt
sehr früh dazu beigetragen, ein sehr realistisches Verhältnis zur Welt und zu den
Lebensbedingungen zu den Menschen zu gewinnen.“
Welche Rolle hat Ihr Elternhaus
zu Ihrer menschlichen Entfaltung gespielt?
„Da vermute ich, dass es bei
mir wie bei nahezu jedem anderen eine überragende Rolle gespielt hat. Da, wo jemand
bei einer Familie aufwächst, wird er von ihr mehr geprägt als von irgend welcher anderen
Institution oder Person auch immer.“
Was danken Sie Ihren Eltern am meisten?
„Ich
könnte jetzt hier nicht einen einzelnen Aspekt hervorheben, außer der erstaunlichen
Bereitschaft mich auch und gerade in Interessen und Anliegen zu fördern, an denen
sie selber gar keine besondere Anlage hatten. Beispielsweise erinnere ich mich, an
den vergleichsweise frühen Kauf eines Klaviers, um auf diese Weise mein Interesse
an Musik und am Erlernen eines Instruments zu ermöglichen.“
Musik spielte
bereits in Ihrer frühen Jugend eine große Rolle, Schon als Kind lernten Sie Orgel
und Cembalo spielen. Sie haben auch Klavierspielen gelernt. Können Sie sich auf einen
Lieblingskomponisten festlegen?
„Das könnte ich, obwohl es mir mit zunehmendem
Alter immer schwerer fällt. Aber in meiner Jugend hat Robert Schumann eine riesige
Rolle gespielt. Aber früh und bis heute anhaltend natürlich Johann Sebastian Bach,
aber es sind dann im Laufe der Zeit immer wieder andere und neue Komponisten für mich
wichtig geworden, auch deshalb, weil ich sie persönlich kennenlernen und mit ihnen
zusammenarbeiten konnte, wie etwa der berühmte estnische Komponist Arvo Pärt.“
Sollten
alle Kinder die Chance erhalten, ein Instrument, gleich welches, zu erlernen? Zur
Entfaltung ihrer Persönlichkeit?
„Ja das wäre jedenfalls außerordentlich
erwünscht, deswegen habe ich mich auch sehr für eine Initiative eingesetzt, die wir
vor einigen Jahren im Ruhrgebiet in meiner Heimat gestartet haben, unter dem Motto:
‘Jedem Kind ein Instrument’, das inzwischen weit über die Region hinaus eine Vebreitung
auch iin anderen Städten und Regionen gefunden hat.“
Sie sind begeisterter
und ausführende Musikkenner. Ich kenne ein Bild von Ihnen, auf dem Sie sogar als Dirigent
mit einem Taktstock keine geringeren als den Berliner-Philharmonikern den Takt vorgeben.
So wie Sie es im Bundestag tun: Kann man sagen, dass auch in der Politik der Ton die
Musik ausmacht?
„Jedenfalls spielt in der Politik – wie in anderen gesellschaftlichen
Zusammenhängen auch – die Art und Weise, in der man etwas sagt, vermittelt, empfiehlt
manchmal eine beinahe größere Rolle, als das, was man in der Sache ausdrückt.“
Wann
haben Sie das erste Mal gespürt, dass Politik etwas ist, das beruflich unbedingt zu
Ihrem Lebensinhalt zählen sollte?
„Das kann ich nicht mit einem einzelnen
Datum in Verbindung bringen, wohl aber mit einer wiederum frühen Prägung durchs Elternaus,
indem durch das kommunalpolitische Engagement meines Vaters, es auch früher Begegnungen
mit den lokalen poltische Engagierten gegeben hat. Aber auch im erheblichen Maße durch
einem Lehrer im humanistischen Gymnasium, das ich acht Jahre besucht habe und der
mir durch sein politisches Interesse, insbesondere aber auch durch die Unabhängigkeit
seiner Urteilsbildung sicher einen nachhaltigen Eindruck vermittelt hat, über das
was Politik bedeutet und wie man damit umgeht.“
Außerdem beherrschen Sie
die Kunst der geschliffenen Rede wie kaum ein anderer. Waren dazu das Talent, die
Gabe, Disziplin oder eine harte Schule ausschlaggebend?
„Ich persönlich
glaube, dass es im wesentlichen eine Verbindung von Begabung und Vorbereitung ist.
Jemand, der überhaupt keine natürliche Begabung zum Reden hat, wird das durch Vorbereitung
nur begrenzt ausgleichen können. Aber umgekehrt gibt es für viele, die offenkundig
eine Begabung zum Reden haben, die gefährliche Versuchung dies für einen ausreichenden
Ersatz zu halten, sich nicht mehr auf Themen oder Anlässe vorbereiten zu müssen. Und
das macht sich dann doch oft sehr schnell eher unangenehm bemerkbar.“
Ist
der Genius der Rhetorik für Ihren Beruf Voraussetzung?
„Nein. Auch da ließe
es sicher aus der Geschichte und aus der Gegenwart das eine oder andere Gegenbeispiel
nennen: aber das es die Wahrnehmung eines politischen Mandats enorm erleichtert, wenn
man sich in einer Weise ausdrücken und mit Menschen kommunizieren kann, daran kann
es ja keinen vernünftigen Zweifel geben.
Seit 2005 haben Sie das zweithöchste
Amt im Staat inne: eine lange Zeit. Wo sehen Sie den Hauptgrund, dass man Sie zum
dritten Mal fast einstimmig in diesem Amt bestätigt hat?
„Da muss man zunächst
mit dem ganz praktischen Umstand beginnen, dass wir in Deutschland nun seit Jahrzehnten
eine unangefochtene Tradition haben, dass die jeweils stärkste politische Gruppierung
im Parlament nach Neuwahlen ein unangefochtenes Vorschlagsrecht hat. Mit anderen Worten:
wären die Wahlergebnisse in den letzten Jahren deutlich anders ausgefallen, als dies
der Fall war, hätte möglicherweise eine andere Partei das Vorschlagsrecht für dieses
Amt gehabt. Ich bin gewissermaßen auch dadurch, dass die Union 2005 wieder stärkste
Fraktion wurde, durch dieses Vorschlagsrecht ins Amt gekommen.Umgekehrt, dadurch dass
es diese Tradition gibt und dass deswegen in der Regel nur über einen einzigen Vorschlag
abgestimmt wird, nämlich den, den die stärkste Fraktion im Parlament macht, kommt
in einer geheimen Wahl zum Ausdruck, wie groß oder wie dünn die Untertützung ist,
die ein solcher Vorschlag unter den Kolleginnen und Kollegen findet und das erleichtert
die Arbeit natürlich sehr, wenn Sie sich ganz offenkundig über einen langen Zeitraum
über eine so breite Vertrauensbasis stützen können.“
Sie haben als deutscher
Bundestagspräsident oft und viele Entscheidungen zu fällen: Einerseits sind Sie inmitten
der Tagespolitik verankert, andererseits müssen Sie aber auch außerhalb des Parteienkampfes
stehen. Das setzt die Fähigkeit zu kunstvollen ‘Spagaten’ voraus. Setzt eigentlich
jede demokratische Entscheidung den Willen und die Fähigkeit zum Kompromiß voraus?
„Vielleicht
nicht jede einzelne. Aber, wer kompromissunwillig oder -unfähig ist, ist für die Politik
vollständig untauglich.“
Welche waren die bisherigen Höhepunkte in Ihrer
politischen Karriere?
„Auch da ließen sich für beide Aspekte mehr, jedenfalls
auffällige Beispiele nennen, als wir an Sendezeit zur Verfügung haben. Aber ich will
zwei für mich herauragende Ereignisse nennen, die mich sicher bis zu meinem Lebensende
in der Erinnerung sehr stark begleiten werden: das eine war mein erster offizieller
Besuch in Israel als deutscher Parlamentspräsident, wo mich der Umstand, dass ich
da nicht nur in der Knesseth offiziell empfangen wurde, sondern mit einer militärischen
Ehrenformation und dem Abspielen der deutschen Nationalhymmne an keinem anderen Platz
der Welt mehr hätte beeindrucken können als ausgerechnet in Jerusalem. Und das andere
war sicher der Besuch und die Rede des Heiligen Vaters, Benedikt XVI., im deutschen
Bundestag, den ich ja schon kurz nach meinem Amtsantritt bei einem Besuch in Rom eingeladen
hatte und der dann zu meiner großen Freude in Zusammenhang mit seinem offiziellen
Deutschlandbesuch auf diese Einladung zurückgekommen ist und eine Rede vor den gewählten
Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der deutschen Öffentlichkeit gehalten hat,
die sich ja über viele Jahre in nachhaltiger Erinnerung bleiben wird.“
Sie
haben enge Beziehungen zu Papst Benedikt XVI. emeritus unterhalten. Würden Sie ihn
und seinen Nachfolger in ein paar Worten beschreiben?
„Für mich ist Papst
Benedikt eine der ganz wenigen Päpste in der Kirchengeschichte, soweit ich sie übersehe,
von denen sich schwerlich übersehen läßt, dass hier ein bedeutender Kirchenlehrer,
ein herausragender Theologe, in dieses höchste Amt gewählt worden ist und auch mit
genau dieser biografischen und wissenschaftlichen Prägung dieses Amt ausgeführt und
ihm seine besondere Note gegeben hat. Über den neuen Papst kann ich außer einer ersten
flüchtigen Begegnung am Tag seiner Amtseinführung keine eigenen persönlichen Eindrücke
vortragen, aber alles, was man hört und sieht, läßt doch deutlich erkennen, dass wir
hier nicht nur einen Wechsel von zwei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten , sondern
auch von deutlich unterschiedlichen Orientierungen, Stil und Themenschwerpunkten haben.“
Wir
kommen nun auf Europa zu sprechen: Der Wohlstand ist in Europa größtenteils zu
einer Selbstverständlichkeit geworden. Das Ergebnis heißt aber nicht Frieden und Zufriedenheit,
sondern Konsum, Konkurrenz, einseitige Wirtschaftsinteressen, Rücksichtslosigkeit.
Beherrscht demnach Geld die Welt ? Und nur Geld die Welt?
„Fast alle Sätze
die mit Blick auf Gesellschaft und soziale Wirklichkeiten mit ‚nur’ und ‚ausschließlich’
anfangen, sind falsch.Weil sich die Wirklichkeit dann doch meist etwas differenzierter
und komplexer darstellt, als sie in solchen Zusammenfassungen oder in Generalisierungen
zum Audruck gebracht werden. Aber richtig ist, dass in den letzten 20-25 Jahren die
Entfesselung von Finanzmäkten eine Eigendynamik gewonnen hat, die ich hoch problematisch
finde und die in einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Politik und Wirtschaft unbedingt
neu geordnet und sortiert werden muss.“
Wenn der zeitungslesende Bürger
von den zusätzlichen hohen Bonifikationen und von hohen Abfindungen gewisser Manager
erfährt, ergibt sich bei vielen der Eindruck grober Unangemessenheit und Ungerechtigkeit.
Das Bonifikationsunwesen belohnt speziell Finanzmanager fûr erfolgreiche Spekulation
und Manipulation mit einem vielfachen ihres normalen vertraglichen Gehaltes. Von diesen
Exzessen stammt eine in die Tiefe gehende politische Unzufriedenheit. Wohin wird dieser
Weg führen?
„Man muss bei aller Kritik, die ich immer ausdrücklich bekräftigt
habe, fairerweise ergänzen, dass wegen der offensichtlichen Übertreibungen und Fehlentwicklungen
es in jüngerer Zeit, jedenfalls in Deutschland auch eine Reihe von bemerkenswerten
Korrekturen gegeben hat. Teilweise in der Selbstverantwortung der betroffenen Unternehmen
oder Banken, teilweise aber auch durch den Gesetzgeber. Da sind wir sicher noch nicht
am Ende der Entwicklung und je nachdem, ob sich die Fehlentwicklung korrigiert, mindestens
sich die Verhältnisse stabilisieren, oder ob es zu neuen Ausuferungen kommt, wird
der Gesetzgeber vor der unangenehmen Notwendigkeit stehen, hier zusätzliche Kontrollen,
Hürden und Grenzen einzuziehen.“
Hat die EU noch eine Seele?
„Die
römischen Verträge waren Verträge zur Gründung einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
Die Logik des europäischen Integrationsprozessessist seitdem auch sehr stark von dem
Aufbau und der Vervollständigung eines großen europäischen Binnenmarktes geprägt.
Dass gerade in den Anfangsjahren des europäischen Einigungsprozesses die traumatische
Erfahrung von zwei Weltkriegen, die beide in Europa stattgefunden haben, auch über
diese ökonomischen Anliegen hinaus Grundsatzfragen des europäischen Selbstverständnisses
in starkem Maße artikuliert und transportiert haben, ist mir sehr bewußt und ich nutze
auch immer wieder jede Gelegenheit, den europäischen Einigungsprozess ausdrücklich
über die zu kurz springende ökonomische Perspektive hinaus zu orientieren.“
Herr
Bundestagspräsident: Sie sind ein bekennender Katholik. Nicht nur die Politik, auch
der Glaube steht auf der Liste Ihres breiten Wirkungsfeldes ganz oben: was bedeutet
es heute sich zum Glauben zu bekennen?
„Mindestens für diejenigen, die es
tun, ist es ganz offensichtlich ein zentraler Bestandteil ihres Selbstverständnisses
und ihres Verhältnisses auch zu der Welt, in der sie leben, in der sich die Aufgaben
und die Herausforderungen, mit denen wir uns auseinander setzen müssen, nicht alleine
aus den Tagesaktualitäten und reinen Zweckmäßigkeiten ergeben und erledigen lassen.
Ich finde auffällig, dass es eine immer größere Spreizung zu geben scheint, zwischen
den Menschen, die solche Orientierungen, solche religiös fundierten Orientierungen
und Überzeugungen für sich für außerordentlich wichtig halten und denen ,die das auch
in einer kirchlichen Bindung zum Ausdruck bringen. Mit anderen Worten: früher waren
diese beiden Personenkreise beinahe identisch, während sie heute immer stärker auseinanderfallen.
Im übrigen hat Papst Benedikt ja schon in seiner Einführung in das Christentum vor
genau diesem Problem und diesem Risiko gewarnt, dass viele Gläubigen an ihrer Kirche
zweifeln und irre werden und das ist aus meiner Sicht eines der sehr ernst zu nehmenden
Phänomene, mit denen sich nicht nur die Kirche, aber die Kirche ganz gewiss auseinandersetzen
muss.“
Dass Sie ein gläubiger Mensch sind, ist lange bekannt. Weniger bekannt
ist – vor allem im Ausland – dass Sie sich an eine neue Textversion des ‘Vater Unser’
, des Gebets aller Gebete, gewagt haben. Würden Sie uns diesen Gebetsttext aufsagen?
„Ungern.
Weil damit sich ein Eindruck leicht vermittelt, den ich gerade vermeiden möchte. Hier
geht es ja nicht darum, einen herausragend wichtigen und zugleich eben auch allgemein
bekannten Text vermeintlich gültig neu zu übersetzen, sondern ihn sprachlich anders
zu fassen, um auf diese Weise wieder einen Beitrag dazu zu leisten, dass das scheinbar
selbstverständliche neu überdacht wird.“
Abschließend, Herr Bundestagspräsident:
ist eine Frage, die Sie vielleicht erwartet haben, auf die Sie vielleicht besonderen
Wert gelegt hätten, in diesem Gespräch nicht vorgekommen?
„Ja, zum Beispiel
die Frage: wie gehen wir Christen insgesamt, und wir Katholiken im besonderem, mit
dem 500. Jahrestag der Reformation um, der uns in wenigen Jahren bevorsteht. Und was
unternehmen wir praktisch? Konkret, nicht nur rhetorisch, um die Spaltung der Christenheit
zu überwinden und die Einheit wieder herzustellen, sowie es das Zweite vatikanische
Konzil schon vor 50 Jahren ausdrücklich reklamiert hat.“
(rv 10.11.2013
ap)
Das ‚Vater unser’ von Norbert Lammert:
Unser Vater im
Himmel! Groß ist dein Name und heilig. Dein Reich kommt, Wenn dein Wille
geschieht, Auch auf Erden. Gib uns das, was wir brauchen. Vergib uns, wenn
wir Böses tun Und Gutes unterlassen. So wie auch wir denen verzeihen wollen, Die
an uns schuldig geworden sind. Und mach uns frei, wenn es Zeit ist. Von den
Übeln dieser Welt.