Sie können weder lesen
noch schreiben – in Madagaskar wächst derzeit eine ganze Generation heran, die noch
nie eine Schule von innen gesehen hat. Angesichts dieser dramatischen Lage schlägt
UNICEF Alarm: Die politische Krise, die den verarmten Inselstaat im indischen Ozean
seit fast fünf Jahren fest im Griff hat, geht auf Kosten der Kinder, warnt Steven
Lauwerier von dem UNO-Kinderhilfswerk im Interview mit Radio Vatikan:
„Seit
Beginn der Krise vor viereinhalb Jahren ist die Zahl der Kinder, die nicht die Schule
besuchen, um etwa eine halbe Million angestiegen. Damit gibt es heute in Madagaskar
1,5 Millionen Kinder, die ihr Recht auf einen Schulbesuch nicht wahrnehmen können.
Und wenn ich von Schule spreche, meine ich die Grundschule – 1,5 Millionen Kinder
haben keine Möglichkeit, rechnen, lesen oder schreiben zu lernen. In ihrem Alter ist
das ein Verlust, der nur schwer wieder ausgeglichen werden kann. Ich nenne sie eine
nahezu ,verlorene Generation‘, denn fünf Jahre im Leben eines Kindes sind in diesem
Alter von enormer Bedeutung.“
Diese Kinder schlügen sich heute mehr schlecht
als recht durch, so der UNICEF-Mitarbeiter. Einige lebten völlig sich selbst überlassen
auf der Straße, andere trügen mit kleinen Arbeiten zum Familienunterhalt bei:
„Es
gibt auch welche, die hier und da kleinen Gewerben nachgehen. Das sind Kinder, die
in diesem Alter eigentlich zur Schule gehen sollten!“
Am vergangenen Freitag
fand in Madagaskar die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Der ehemalige
Minister für Sport und Gesundheit, Robinson Jean Louis, und der Ex-Finanzminister
Henry Rajaonarimampianina lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wahrscheinlich kommt
es zur Stichwahl am 20. Dezember. Nach dem jahrelangen politischen Machtkampf zwischen
Ex-Präsident Marc Ravalomanana und seinem Rivalen Andry Rajoelina, der sich im März
2009 zum Übergangspräsidenten ausrufen ließ, hofft das Land nun auf mehr Stabilität
und eine bessere Zukunft. Unter dem Tauziehen um die Macht habe der Bildungssektor
in den vergangenen Jahren massiv gelitten, so Lauwerier.
„Die Investitionen
der Regierung und private Investitionen in Bildung sind in den letzten viereinhalb
Jahren stark zurückgegangen, und die Rechnung ist den Haushalten gestellt worden.
In Madagaskar ist die Armut jedoch ein enormer Faktor: Ungefähr eine von drei Familien
lebt mit weniger als einem Dollar pro Tag, neun von zehn mit weniger als zwei Dollar
pro Tag! Für Menschen, die tagtäglich ums Überleben kämpfen, sind die Kosten für den
Schulbesuch ihrer Kinder eine große Last. Sie müssen sehen, dass ihre Familie ernährt
werden, Geld in Bildung zu stecken ist da schwer.“
Die Schulausbildung
der Kinder sei regelmäßig ein großes Thema in der nationalen Presse des Landes, so
Lauwerier. Die Familien wüssten sehr gut um die Notwendigkeit einer Ausbildung ihrer
Kinder und versuchten diese mit allen Mitteln zu ermöglichen. Selbst die Ärmsten täten
alles Erdenkliche, „um eine Schule zu bauen oder die Lehrer ihrer Kinder zu bezahlen,
sei es mit Naturalien oder Hühnchen“, berichtet der UNICEF-Mitarbeiter. Die fehlende
Bildung der jungen Leute sei für Madagaskar eine „tickende Zeitbombe“:
„Die
Auswirkungen auf die Zukunft des Landes sind enorm. Vor allem Investitionen in die
frühe Schulbildung haben langfristig große Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung
des Landes. Das Defizit der letzten Jahre wird sicher Folgen haben. Und man muss alles
tun, um zu verhindern, dass sich diese Situation fortsetzt!“
Die politische
Blockade im Land hat auch der Wirtschaft des Landes zugesetzt: Sie wächst viel langsamer
als in anderen Ländern der Region. Kann ein politischer Neuanfang Madagaskar auf einen
besseren Weg bringen? UNICEF-Mitarbeiter Lauwerier wünscht sich vor allem Besserung
für Madagaskars Zukunft – für die Jüngsten im Land:
„Die Hälfte der Bevölkerung
geht nicht wählen: Es sind Kinder unter 18 Jahren! Diese Krise hat sich aber vor allem
auf sie ausgewirkt, und der Ausgang der Wahlen wird Folgen für sie haben. Ich hoffe,
dass die neue Regierung ihre Versprechen halten und handeln wird und dass Madagaskar
aufs Neue das Vertrauen von Geldgebern gewinnen kann, damit nicht nur wieder in Ausbildung,
sondern auch in die Gesundheit investiert werden kann, allgemein in den sozialen Sektor,
der so viel gelitten hat.“