Buchempfehlung: Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt
Uwe Wolff, Iserloh.
Der Thesenanschlag fand nicht statt. Reinhardt Verlag, 25 Euro. Forschung
aus Theologenfeder, die es weltweit in die Schlagzeilen bringt, ist rar. Dem deutschen
Priester und Kirchenhistoriker Erwin Iserloh gelang 1961 ein solcher Coup mit der
Aussage: Martin Luthers Thesenanschlag zu Wittenberg fand nicht statt. Er ist eine
Konstruktion des 19. Jahrhunderts. Der evangelische Theologe, Kulturwissenschaftler
und Schriftsteller Uwe Wolff zeichnet nun in einer Biografie das Leben und Wirken
jenes Erwin Iserloh nach, von dem heute nur Eingeweihte wissen.
Iserloh, geboren
1915 in Duisburg, früh im Konflikt mit der Hitlerjugend und den braunen Umtrieben
überhaupt, wurde Seminarist in Münster unter Bischof von Galen. Auf dem schwarzen
Brett der Universität fand er eine Preisarbeit ausgeschrieben: “Der Kampf um die Messe
in den ersten Jahren der Auseinandersetzung mit Luther”. Er gewann den ersten Preis
und war seinem Lebensthema auf die Spur gekommen. Im Kriegsjahr 1940 weihte ihn von
Galen zum Priester. Iserloh war zugleich ein guter Erzieher, der Ferienlager mit Jugendlichen
veranstaltete und mit verhaltensauffälligen Teenagern arbeitete. Einen guten Erzieher
sah Iserloh auch in Luther, wie Wolff darlegt. Eine der großen Entdeckungen an Luther
aber war für den jungen Priester Iserloh die Gnadenlehre. Er begriff sie, als er 1943
an der Ostfront Dienst tat. Als Fahrer eines Krankenwagens stand er ungezählten Sterbenden
bei.
Nach dem Krieg durfte er 1947 mit einem Stipendium nach Rom, um sich zu
habilitieren. Dabei sah Iserloh selbst sich als Pfarrer, nicht als Gelehrter. Das
mittelalterliche Thema, das man ihm zugewiesen hatte, interessierte ihn nicht, aber
es war der Preis dafür, in einem Rom ohne Kriegswunden und im Zentrum der Weltkirche
zu leben. Er kam im Camposanto im Vatikan unter und stand dort als mahnendes Gewissen
seinem Lehrer Hubert Jedin zur Seite: der Priester und große Kirchenhistoriker war
schuldhaft in eine Liebesaffäre zu einer Diplomatengattin verstrickt.
An der
Universität Trier erlangte Iserloh einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte. Die jungen
Priesterstundenten, mit denen er zusammen wohnte, bat er, ihn nicht als bloßen Ausbilder
zu begreifen, sondern “als Menschen, die mit Ihnen um die Wahrheit ringen und kämpfen”.
Seine große Stunde kam mit seiner Lutherforschung. Wolff schreibt: “Die Bestreitung
des Thesenanschlages war eine Art Heimholung des jungen Luther in die katholische
Kirche”. Auf entsprechenden Widerstand stieß Iserlohs Befund in beiden Lagern, dem
katholischen wie dem reformierten. Wie oft, wenn historische Fragen zum Gegenstand
erbitterter Debatten werden, ging es weniger um die krude historische Wahrheit: Hat
er genagelt, oder hat er nicht, sondern es ging “um die Frage konfessioneller Identität”.
Das
eigentlich Wirksame am Bild des Thesenanschlags ist seine Geste, das Hämmernde, das
Laute daran: Luther, der seine Kritik ans Kirchentor nagelt. Iserloh kam zu dem Schluss,
Luther sei gar nicht mit der Körperhaltung des Spalters aufgetreten. Nicht nur, dass
er seine Thesen nirgendwohin nagelte, er wollte auch kein Reformator sein. Er wurde
es unabsichtlich. Schon in den 1930er Jahren, lange vor dem Konzil, hatte Erwin Iserloh
an einem differenzierteren Luther-Bild in der katholischen Kirche gearbeitet. Nun
wurde seine These zu einem Pflasterstein des Weges der Ökumene, wenngleich “eine Ökumene
mit Weichspüleffekt nicht Iserlohs Sache [war]”.
Vom äußeren Zuschnitt her
ist diese biografische Studie gleichsam ein doppelt gewobenes ökumenisches Werk: Luther,
durchleuchtet von einem katholischen Theologen, dessen Leben nun seinerseits ein evangelischer
Theologe rekonstruiert. Uwe Wolff trägt die Lebensstationen des Erwin Iserloh, an
dem sich die 68-er Generation in Münster so trefflich reiben konnte, mit Sensibilität
für Sachverhalte des Glaubens und unübersehbarem zuordnenden Geschick vor. Die auch
sprachlich hervorragende Biografie nährt sich wesentlich aus dem Nachlass sowie den
Schriften Iserlohs, aber mehr noch aus dem Vermögen des Autors, seine Quellen auf
Inhalte wie auf geistige Tragweite gleichermaßen zu befragen. Ergänzt ist das Werk
unter anderem mit einer Dokumentation der Beiträge Iserlohs zum Thesenanschlag, der
sich 2017 zum 500. Mal jährt.