Der Vatikan sieht für Europa auch in einer künftigen Weltordnung eine wichtige Rolle.
Das sagt Vatikan-Erzbischof Aldo Giordano im Gespräch mit Radio Vatikan. Der Italiener
ist seit 2008 Ständiger Beobachter des Heiligen Stuhls beim Europarat in Straßburg.
„Mir scheint das Thema Freiheit das Entscheidende. Europa hat über die
Jahrhunderte und auch in den letzten Jahrzehnten eine große Liebe zur Freiheit entwickelt.
Allerdings sehen wir heute eine Form von Freiheit, die stark individualistisch ist
und um ein immer größeres Ich kreist. Wenn wir aber die Vorstellung von Freiheit wieder
neu vertiefen, dann stellen wir fest, dass sie in Wirklichkeit der Ort ist, wo wir
zum Anderen in Beziehung treten, auch zum ganz Anderen, zu unserem Ursprung und zu
Gott. Wir müssen also wieder wegkommen von einem Europa, das sich kulturell in sich
selbst verschließt, wo das Ich alles entscheiden will, auch das eigene Geschlecht
und wie es Kinder hervorbringt, oder was die Werte sind.“
Die Wirtschafts-
und Finanzkrise setzt Europa im Augenblick hart zu, aber auch hier will Erzbischof
Giordano vor allem eine Chance sehen.
„Europa hatte eine große wirtschaftliche
Rolle, auch darin wird es jetzt schwächer. Aber wenn die Wirtschaft jetzt die Solidarität
wiederentdeckt und Mut zur Solidarität hat, dann könnte Europa auch wieder imstande
sein, der Menschheit etwas wirklich Wichtiges zu sagen.“
Der Diplomat
sieht bei seinen Gesprächspartnern in Straßburg viel Interesse für das, was der neue
Papst aus Argentinien über die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ sagt.
„Europa
und die Welt schienen keine neuen Wege mehr aufzutun – und da kommt der Papst und
wird immer mehr zu einem Bezugspunkt, auch zu einem Zeichen der Hoffnung; denn es
ist ja gerade die Hoffnung, die häufig auf unseren Wegen fehlt. Er gibt vielen die
Intuition, dass die Menschheit auch ganz andere Wege gehen könnte; dass man die Probleme
unter den Völkern nicht unbedingt mit Waffen lösen muss, dass es auch ohne Waffenhandel
ginge, und dass wir nicht gezwungen sind, dabei zuzusehen, wie ganze Völkerscharen
an Hunger sterben. Wenn der Mensch sich auf seine Wurzel besinnt und die Kirche auf
ihre eigentliche Berufung, dann ist das neu! Vor ein paar Tagen wurde im Ministerrat
des Europarats über Migration diskutiert, und immer wieder erinnerte jemand an den
Papst. Dass er nach Lampedusa gereist ist, dass er gesagt hat, der Mensch müsse im
Zentrum stehen... Mir scheint wirklich, dass das Neues schafft in der Politik und
auch für die Wirtschaft.“
Aldo Giordano hat schon zwanzig Jahre im politischen
Europa verbracht: Vor seinem Europarats-Posten arbeitete er für den Rat Europäischer
Bischofskonferenzen. „Ein anderes Europa ist möglich“ heißt ein – italienisches –
Gesprächsbuch, in dem er von seinen Erfahrungen berichtet.
„Ich habe ein
Europa erlebt, das erst mit dem Mauerfall zu tun hatte, dann mit den Balkankriegen
und schließlich mit der Globalisierung und den neuen globalen Themen: Energiekrise,
Finanzkrise, Terrorismus. So oft hat man versucht, den Himmel über Europa sozusagen
zu verdüstern, und jedesmal kommen wieder Europäer und öffnen uns wieder den Blick
für den blauen Himmel über Europa... Wir sind 800 Millionen Kontinental-Europäer,
und von diesen 800 Millionen ist der Großteil getauft. Etwa 600 Millionen Europäer
sind Christen! Mein Eindruck ist, dass Papst Franziskus die Europäer an diese Taufe
erinnern will, die der Großteil von ihnen empfangen hat. Damit die vielen Masken,
hinter denen sich das Christentum in Europa versteckt, fallen und wieder das echte
Gesicht des europäischen Christentums sichtbar wird. Wenn Europas Christen wiederentdecken,
wer und was sie sind, dann findet ein Volk sein Wesen wieder und kann das dann auch
in eine bestimmte Politik übersetzen, die gewisse Werte verteidigt. Ich glaube daran,
weil ich an das Evangelium glaube und an seine Kraft!“