Radio Vatikan Buchtipp: Hellmut Flashar, Aristoteles
Hellmut Flashar, Aristoteles – Lehrer des Abendlandes, C.H. Beck Verlag, ca. 27
Euro, empfohlen von Stefan v. Kempis (Radio Vatikan) am 12.10.2013
Im November
1915 führt der Philologe Hermann Diels auf einer Sitzung der Preußischen Akademie
der Wissenschaften einen Wasserdruck-Apparat vor, der einen „durchdringenden Pfiff“
von sich zu geben vermag. Gebaut hat er ihn mithilfe seines Sohns, eines späteren
Chemie-Nobelpreisträgers, und unter den Gelehrten, die sich über das Pfeifen wundern,
ist auch Albert Einstein. Der Pfeif-Apparat ist ein Nachbau: Mit dem Original weckte
einst, zwei Jahrtausende zuvor, der Philosoph Platon in seiner Akademie in Athen seine
Schüler aus dem Schlaf, unter ihnen den Aristoteles.
Das ist nur eine von
vielen interessanten Geschichten, die Hellmut Flashar in seinem Buch „Aristoteles,
Lehrer des Abendlandes“ erzählt. Der Klassische Philologe (also nicht Philosoph) Flashar
war vier Jahrzehnte lang Herausgeber der deutschen Aristoteles-Gesamtausgabe – aber
er hat trotz seines gebündelten Wissens eine leicht lesbare Einführung in Leben und
Werk des Aristoteles geschrieben. Der Leser gerät ins Staunen und erfährt viel Neues:
etwa, dass schon eine zeitgenössische Inschrift am Orakel von Delphi den Aristoteles
erwähnt. Dass der Denker – Flashar belegt das an seinem Testament, dessen Text sich
erhalten hat – keineswegs so nüchtern-kaltherzig war, wie seine Schriften gelegentlich
wirken. Oder, dass es nicht nur von Platon ein Höhlengleichnis gibt, sondern auch
von seinem Schüler Aristoteles. Ein Gleichnis allerdings, das sich von dem des Lehrers
„geradezu provozierend“ absetzt. Wie auf dem berühmten Raffael-Fresko im Vatikan (und
wie in der Darstellung Goethes) wird bei Flashar ein Gegensatz zwischen Platon und
Aristoteles deutlich: Platon steht aus seiner Sicht „bis in die Gegenwart in der Gefahr
einer wissenschaftsfernen, quasi-religiösen Überhöhung“, während „das Werk des Aristoteles
dagegen das des gesunden Menschenverstandes“ sei, „gepaart mit dem Ethos des ernsten
Forschers“.
Aristoteles war in vielem der Erste, zum Beispiel hat er als erster
eine „Ethik“ im Sinn eines „abgegrenzten Teilgebietes der Philosophie“ verfasst. Aber
wer wusste schon, dass das gleich mehrere verschiedene Ethiken aus seiner Feder waren,
die fast ganz unabhängig voneinander argumentieren? Oder dass Ethik für ihn zur politischen
Wissenschaft gehörte? Wem war klar, dass der Begriff „Metaphysik“ eher zufällig aufkam,
weil der erste Herausgeber der Schriften des Aristoteles eben die entsprechenden Abhandlungen
gleich „nach der Physik“, „tà metà tà physiká“, einordnete? Logisch stringent, vor
allem aber immer nachvollziehbar schildert der Autor, das das Glück für Aristoteles
„in der Tätigkeit (energeia) im Sinn des ethisch wertvollen Handelns“ lag und nicht
etwa in der Lust. Flashar beschreibt zunächst den Stand der Philosophie vor Aristoteles;
dann stellt er dessen Werke vor, und schließlich umreißt er deren Fortwirkung durch
die Jahrhunderte bis heute. Am Anfang aller Philosophie, so schreibt er, stand für
Aristoteles das „Staunen“. Dieses Staunen führt zu der Suche nach Erklärungen; mit
diesem Ansatz steht Aristoteles denn doch in der Tradition Platons und seiner anderen
Vorgänger im Philosophieren.
Für uns ist natürlich besonders interessant, wie
ausführlich und genau Flashar die aristotelische Theorie vom „ersten Beweger“ allen
Seins, also seine Theologie wiedergibt. Dabei wird deutlich, dass Aristoteles hier
doch letztlich von der „Argumentationsstruktur“ „im Rahmen eines Denkgehäuses“ verbleibt,
„das Platon vorgegeben hat“. Anders bei der „Psychologie“, also der (von Platon stark
geprägten) Seelen-Lehre: Hier arbeitet der Autor vor allem die Eigenständigkeit im
Ansatz des Aristoteles, Seele und Körper konsequent zusammenzudenken, heraus.
Das
Schlusskapitel zur Rezeption des Aristoteles hätte ich mir noch ausführlicher gewünscht:
Es ist nämlich bis heute kaum bekannt, dass bei der Übersetzung von aristotelischen
Schriften ins Arabische, wie sie ab dem 7. Jahrhundert gängig war auch „einige Schriften
entstanden, die dem Aristoteles zugeschrieben wurden und auch lange Zeit als aristotelisch
galten“. Selbst Albertus Magnus fiel auf einen solchen arabischen Pseudo-Aristoteles
herein. Zu einem so genannten „Buch vom Apfel“ schreibt Flashar: „Die Schrift war
gegen Ende des 10. Jahrhunderts in einer (verlorenen) arabischen Version verbreitet,
die dann ins Hebräische und schließlich unter König Manfred von Sizilien kurz nach
1250 ins Lateinische übersetzt wurde. Sie wurde viel gelesen und in alten Ausgaben
dem Werk des Aristoteles vorangestellt.“ Wirklich, darüber hätte ich gerne noch mehr
erfahren!
Alles in allem: Flashars „summa“ ist ein spannendes, gut geschriebenes
Buch, in dem man unglaublich viel über die Grundlagen unseres Denkens und auch Glaubens
erfährt.