Santa Marta, Montag, 19. August 2013, 9.50 Uhr. Es ist Montag, der 19.
August. Papst Franziskus hat mir für 10 Uhr ein Treffen mit ihm im Gästehaus Santa
Marta gewährt. Von meinem Vater habe ich die Gewohnheit geerbt, immer vor der vereinbarten
Zeit einzutreffen. Die Personen, die mich empfangen, lassen mich in einem kleinen
Saal Platz nehmen. Aber ich brauche nicht lange zu warten: Schon nach wenigen Minuten
werde ich zum Aufzug begleitet. In diesen zwei Minuten habe ich Zeit, mich daran zu
erinnern, dass (Mitte Juni 2013) in Lissabon bei einem Treffen von Chefredakteuren
einiger Jesuiten-Zeitschriften der Vorschlag aufgetaucht war, wir sollten alle gemeinsam
ein Interview mit dem Papst veröffentlichen. Ich hatte mit den anderen Chefredakteuren
darüber diskutiert und einige Fragen entworfen, die die Interessen aller zum Ausdruck
bringen würden. - Als ich den Aufzug verlasse, sehe ich den Papst, der mich schon
an der Tür erwartet. Ja, ich hatte tatsächlich den angenehmen Eindruck, durch keine
Türen gegangen zu sein.
Ich betrete sein Zimmer, und der Papst lässt mich auf
einem bequemen Stuhl Platz nehmen. Er selbst setzt sich auf einen höheren und härteren
Sessel - wegen seiner Rückenprobleme. Das Ambiente ist einfach, ja karg. Der Arbeitsplatz
am Schreibtisch ist sehr schlicht. Ich bin betroffen von der Schlichtheit der Ausstattung.
Es gibt wenige Bücher, wenig Papier, wenige Kunstgegenstände. Darunter eine Ikone
des heiligen Franziskus, eine Statue Unserer Lieben Frau von Luján, der Schutzpatronin
Argentiniens, eine Statue des schlafenden heiligen Josef, die jener sehr ähnlich ist,
die ich schon in dem Zimmer gesehen hatte, das er als Rektor und Provinzial am Colegio
Maximo von San Miguel bewohnt hatte. Die Spiritualität von Bergoglio setzt sich
nicht aus „harmonisierten Energien“ zusammen, wie er es nennen würde, sondern aus
menschlichen Gesichtern: Christus, der heilige Franziskus, der heilige Josef, Maria.
Der
Papst empfängt mich mit dem Lächeln, das inzwischen vielfach um die Welt gegangen
ist und die Herzen öffnet. Wir beginnen, heute über verschiedene Themen zu sprechen,
aber vor allem über seine Brasilienreise. Der Papst betrachtet sie als eine wahre
Gnade. Ich frage ihn, ob er sich ausgeruht habe. Er bejaht das, sagt, es gehe ihm
gut, aber vor allem der Weltjugendtag sei für ihn ein „Mysterium“ gewesen. Er sagt
mir, dass er bis dahin nicht gewohnt gewesen war, vor so großen Menschenmassen zu
sprechen: „Es gelingt mir, die einzelnen Personen, eine nach der anderen, anzuschauen,
in persönlichen Blickkontakt mit denen zu treten, die ich vor mir habe. An die Massen
habe ich mich noch nicht gewöhnt.“
Ich sage ihm, dass das stimmt und dass
es alle berührt. Man sieht es: Wenn er unter Menschen ist, ruhen seine Blicke tatsächlich
immer auf den Einzelnen. Dann projizieren die Fernsehkameras die Bilder, die alle
sehen können; aber so kann er sich frei fühlen, wenigstens direkt in persönlichem
Augenkontakt mit denen zu treten, die er vor sich hat. Mir scheint, dass er damit
zufrieden ist, diesen direkten Augenkontakt mit Personen zu haben, die er vor sich
sieht; das heißt, dass er der sein kann, der er tatsächlich ist, und seine gewohnte
Art, mit den anderen zu kommunizieren, nicht ändern muss, auch wenn er Millionen Menschen
vor sich hat, wie es am Strand von Copacabana der Fall war.
Bevor ich das Aufnahmegerät
einschalte, sprechen wir auch über andere Dinge. Als er eine Publikation von mir kommentiert,
sagt er, dass die zwei von ihm besonders geschätzten zeitgenössischen französischen
Denker Henri de Lubac SJ und Michel de Certeau SJ seien. Auch ich sage ihm etwas ganz
Persönliches. Dann spricht er über sich und insbesondere über seine Wahl zum Papst.
Er sagt mir: Als ihm das Risiko, gewählt zu werden, am Mittwoch, dem 13. März, beim
Mittagessen bewusst geworden sei, habe er einen tiefen und unerklärlichen Frieden
und einen inneren Trost gespürt - zugleich mit einer völligen Dunkelheit, einer tiefen
Finsternis. Und diese Gefühle haben ihn bis zur Wahl begleitet.
Ich würde gern
noch länger so vertraulich mit ihm reden, aber nun nehme ich doch die Blätter, auf
denen ich einige Fragen notiert habe, und schalte das Aufnahmegerät ein. Zunächst
danke ich ihm im Namen aller Chefredakteure der Jesuiten-Zeitschriften, die dieses
Interview veröffentlichen werden.
Kurz vor der Audienz, die er den Jesuiten
der Civiltà Cattolica gewährte1, hat der Papst mir gegenüber geäußert,
dass er große Schwierigkeiten habe, Interviews zu geben. Er sagt mir, er ziehe es
vor nachzudenken, statt in Augenblicksinterviews vorbereitete Antworten zu geben.
Er spüre, dass ihm die richtigen Antworten erst kommen, nachdem er die erste Antwort
gegeben hat. „Ich habe mich selbst nicht wiedererkannt, als ich auf dem Rückflug
von Rio de Janeiro den Journalisten, die mir die Fragen stellten, antwortete“,
sagt er zu mir.
Aber es stimmt: In diesem Interview fühlte sich der Papst so
frei, das, was er auf eine Frage antwortet, zu unterbrechen, um zur vorherigen Antwort
noch etwas hinzuzufügen. Mit Papst Franziskus zu reden ist so, wie wenn man einem
Vulkanstrom von Ideen zuhört, die sich miteinander verknüpfen. Selbst wenn ich mir
Notizen mache, habe ich das unangenehme Gefühl, einen sprudelnden Dialog zu unterbrechen.
Es ist klar, dass Papst Franziskus mehr an Gespräche als an das Ablesen eines vorbereiteten
Textes gewöhnt ist.
Wer ist Jorge Mario Bergoglio?
Ich
habe die Fragen vor mir, aber ich beschließe, nicht dem von mir vorbereiteten Entwurf
zu folgen, und frage den Papst etwas unvermittelt: „Wer ist Jorge Maria Bergoglio?“
Der Papst blickt mich schweigend an. Ich frage ihn, ob man ihm eine solche Frage stellen
darf. Er gibt mir ein Zeichen, dass er die Frage akzeptiert, und sagt: „Ich weiß
nicht, was für eine Definition am zutreffendsten sein könnte… Ich bin ein Sünder.
Das ist die richtigste Definition. Und es ist keine Redensart, kein literarisches
Genus. Ich bin ein Sünder.“2 Der Papst denkt weiter nach, ergriffen,
so als hätte er diese Frage nicht erwartet, als wäre er gezwungen, eine weitere Überlegung
anzustellen.
„Ja, ich kann vielleicht sagen, ich bin ein wenig gewieft,
ich verstehe mich zu bewegen, aber es stimmt, dass ich auch arglos bin. Ja, aber die
beste Synthese, die mir aus dem Innersten kommt und die ich für die zutreffendste
halte, lautet: ,Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat.‘ Und er wiederholt:
„Ich bin einer, der vom Herrn angeschaut wird. Meinen Wahlspruch Miserando atque eligendo
habe ich immer als sehr zutreffend für mich empfunden.“
Der Wahlspruch
des Papstes stammt aus den Homilien des heiligen Beda Venerabilis, der in seinem Kommentar
zur Episode der Berufung des heiligen Matthäus schreibt: „Jesus sah einen Zöllner,
und als er ihn liebevoll anblickte und erwählte, sagte er zu ihm: Folge mir!“
Und der Papst fügt hinzu: „Das lateinische Gerundium miserando scheint mir sowohl
ins Italienische wie ins Spanische unübersetzbar zu sein. Ich würde es am liebsten
mit einem anderen Gerundium übersetzen, das es gar nicht gibt: misericordiando.“
Papst
Franziskus fährt mit einem Gedankensprung, dessen Sinn ich nicht gleich verstehe,
in seiner Betrachtung fort: „Ich kenne Rom nicht. Ich kenne nur wenige Orte der
Stadt. Darunter Santa Maria Maggiore; dorthin bin ich immer wieder gegangen.“
Ich lache und sage zu ihm: „Das haben wir alle sehr wohl verstanden, Heiliger Vater!“
„Ja doch“, fährt der Papst fort, „ich kenne Santa Maria Maggiore, Sankt
Peter … Aber wenn ich nach Rom kam, habe ich immer in der Via Scrofa gewohnt. Von
dort besuchte ich oft die Kirche San Luigi dei Francesi; dorthin ging ich, um das
von Caravaggio gemalte Bild von der Berufung des hl. Matthäus zu betrachten.“
Ich
beginne zu ahnen, was mir der Papst sagen will. „Dieser Finger Jesu, der auf Matthäus
weist - so bin ich, so fühle ich mich, wie Matthäus.“ Und hier wird der Papst
entschieden, so als hätte er das Bild von sich, nach dem er suchte, erfasst: „Es
ist die Geste des Matthäus, die mich betroffen macht: Er packt sein Geld, als wollte
er sagen: ,Nein, nicht mir, nicht mir gehört dieses Geld! Siehe, das bin ich: ein
Sünder, den der Herr angeschaut hat.‘ Und das habe ich gesagt, als sie mich fragten,
ob ich meine Wahl zum Papst annehme.“ Dann murmelt er: „Peccator sum, sed super
misericordia et infinita patientia Domini nostri Jesu Christi confisus et in spiritu
penitentiae accepto.“
Warum sind Sie Jesuit geworden?
Ich
begreife, dass diese Formel bei der Annahme der Wahl für Papst Franziskus auch ein
Identitätsausweis ist. Da gab es nichts mehr hinzuzufügen. Ich fahre mit der ersten
der vorbereiteten Fragen fort: „Heiliger Vater, was hat Sie zum Eintritt in die Gesellschaft
Jesu bewogen? Was hat Sie am Jesuitenorden besonders berührt?“
„Ich wollte
etwas mehr machen, wußte aber nicht, was. Ich war ins Priesterseminar eingetreten.
Die Dominikaner gefielen mir, und ich hatte Dominikaner als Freunde. Aber dann habe
ich die Gesellschaft Jesu gewählt, die ich gut kannte, weil das Seminar den Jesuiten
anvertraut war. An der Gesellschaft Jesu haben mich drei Dinge berührt: der Sendungscharakter,
die Gemeinschaft und die Disziplin. Das mutet seltsam an, weil ich von Geburt an ein
undisziplinierter Mensch bin. Aber die Disziplin der Jesuiten, ihre Art mit der Zeit
umzugehen, hat mich sehr beeindruckt.“
„Und dann etwas, das für mich
wirklich fundamentale Bedeutung hat: die Gemeinschaft. Ich sehe mich nicht als einsamer
Priester: Ich brauche Gemeinschaft. Und das wird aus der Tatsache verständlich, dass
ich hier in Santa Marta wohne: Als ich in das Haus einzog, wurde mir per Los das Zimmer207
zugeteilt. Das Zimmer, in dem wir uns jetzt befinden, war ein Gästezimmer. Ich habe
mich entschieden, hier, im Zimmer 201, zu wohnen, weil ich, als ich die päpstliche
Wohnung in Besitz nahm, in mir ein deutliches ,Nein‘ spürte. Das päpstliche Appartement
im Apostolischen Palast ist nicht luxuriös. Es ist alt, geschmackvoll eingerichtet
und groß, nicht luxuriös. Aber letztendlich gleicht es einem umgekehrten Trichter.
Es ist groß und geräumig, aber der Eingang ist wirklich schmal. Man tritt tropfenweise
ein. Das ist nichts für mich. Ohne Menschen kann ich nicht leben. Ich muß mein Leben
zusammen mit anderen leben.“
Während der Papst von Sendung und Gemeinschaft
spricht, fallen mir alle jene Dokumente der Gesellschaft Jesu ein, in denen von „Gemeinschaft
für die Sendung“ die Rede ist. Und das finde ich in seinen Worten wieder.
Was
bedeutet es für einen Jesuiten, Papst zu sein?
Ich frage den Papst,
was es für ihn bedeutet, dass er der erste Jesuit ist, der zum Bischof von Rom gewählt
wurde: „Wie verstehen Sie den Dienst an der Gesamtkirche, zu dessen Erfüllung Sie
berufen wurden, im Licht der ignatianischen Spiritualität? Was bedeutet es für einen
Jesuiten, zum Papst gewählt zu werden? Welcher Punkt der ignatianischen Spiritualität
hilft Ihnen am besten, Ihr Amt zu leben?“
„Die Unterscheidung“, antwortet
Papst Franziskus, „ist eines der Anliegen, die den heiligen Ignatius innerlich
am meisten beschäftigt haben. Für ihn ist sie ein Kampfmittel, um den Herrn besser
kennenzulernen und ihm aus nächster Nähe zu folgen. Mich hat immer eine Maxime betroffen
gemacht, mit der die Vision des Ignatius beschrieben wird: Non coerceri a maximo,
sed contineri a minimo divinum est3. Über diesen Satz habe ich auch
im Blick auf die Leitung, auf die Erfüllung des Amtes des Superiors viel nachgedacht:
sich nicht vom größeren Raum einnehmen zu lassen, sondern imstande zu sein, im engsten
Raum zu bleiben. Diese Tugend des Großen und des Kleinen ist die Großmut, die uns
aus der Stellung, in der wir uns befinden, immer den Horizont sehen lässt: tagtäglich
die großen und die kleinen Dinge des Alltags mit einem großen und für Gott und für
die anderen offenen Herzen zu erledigen. Das heißt - innerhalb der großen Horizonte
des Reiches Gottes: viel übersehen, die kleinen Dinge aufwerten.“
„Diese
Maxime bietet die Parameter, um eine korrekte Haltung für die Unterscheidung einzunehmen,
um die Dinge Gottes aus seinem ,Gesichtspunkt‘ zu sehen. Für den heiligen Ignatius
müssen die großen Prinzipien in die räumlichen, zeitlichen und personellen Umstände
eingefügt sein. Johannes XXIII. stellte sich auf diese Leitungsposition ein, als er
den Grundsatz wiederholte: Omnia videre, multa dissimulare, pauca corrigere (Alles
sehen, viel übersehen, wenig korrigieren). Denn auch wenn er alles, die großen
Dimensionen, sah, meinte er, es nur mit Wenigem, in einer sehr kleinen Dimension,
zu tun zu haben. Man kann große Projekte haben und sie verwirklichen, indem man auf
wenige kleine Dinge als Grundlage setzt. Oder man kann schwache Mittel einsetzen,
die sich als wirkungsvoller erweisen als die starken, sagt auch der heilige Paulus
im ersten Korintherbrief.“
„Diese Unterscheidung braucht Zeit. Viele
meinen zum Beispiel, dass Veränderungen und Reformen kurzfristig erfolgen können.
Ich glaube, dass man immer genügend Zeit braucht, um die Grundlagen für eine echte,
wirksame Veränderung zu legen. Und das ist die Zeit der Unterscheidung. Manchmal spornt
uns die Unterscheidung jedoch dazu an, etwas sofort zu erledigen, was man eigentlich
später tun wollte. Und so ist es auch mir in diesen Monaten ergangen. Die Unterscheidung
erfolgt immer in der Gegenwart des Herrn, indem wir auf die Zeichen achten, die Dinge,
die geschehen, hören, mit den Menschen, besonders mit den Armen, fühlen. Meine Entscheidungen,
auch jene, die mit dem normalen Alltagsleben zu tun haben, wie die Benützung eines
einfachen Autos, sind an eine geistliche Unterscheidung gebunden, die auf ein Erfordernis
antwortet, das durch die Umstände, die Menschen und durch das Lesen der Zeichen der
Zeit entsteht. Die Unterscheidung im Herrn leitet mich in meiner Weise des Führens.“
„Ich
misstraue jedoch Entscheidungen, die improvisiert getroffen wurden. Ich misstraue
immer der ersten Entscheidung, das heißt, der ersten Sache, die zu tun mir in den
Sinn kommt. Sie ist im Allgemeinen falsch. Ich muß warten, innerlich abwägen, mir
die nötige Zeit nehmen. Die Weisheit der Unterscheidung löst die notwendige Zweideutigkeit
des Lebens ab und läßt uns die geeignetsten Mittel finden, die nicht immer mit dem
identisch sind, was als groß und stark erscheint.“
Die Gesellschaft
Jesu
Die Unterscheidung ist also ein Stützpfeiler der Spiritualität
des Papstes. Darin kommt in besonderer Weise seine jesuitische Identität zum Ausdruck.
Ich frage ihn also, wie seiner Meinung nach die Gesellschaft Jesu der Kirche heute
dienen könne, worin ihre Besonderheit bestehe, aber auch, welche Risiken sie eingehe.
„Die
Gesellschaft Jesu ist eine Institution, die sich in Spannung, immer radikal in Spannung
befindet. Der Jesuit ist dezentriert. Die Gesellschaft Jesu in sich selbst ist dezentriert:
Ihr Zentrum ist Christus und seine Kirche. Also: Wenn die Gesellschaft Jesus Christus
und die Kirche als zentrale Mitte hat, besitzt sie zwei fundamentale Bezugspunkte
ihrer Ausgeglichenheit, um an den Rändern der Gesellschaft zu leben. Wenn die Gesellschaft
Jesu jedoch ihren Blick allzusehr auf sich selbst richtet, stellt sie sich als sehr
solide, gut gewappnete Struktur in den Mittelpunkt und läuft damit Gefahr, sich sicher
und überheblich zu fühlen. Die Gesellschaft Jesu muss immer den Deus semper maior
vor sich haben, die Suche nach der immer größeren Ehre Gottes; sie muss vor sich haben
die Kirche, die wahre Braut Christi unseres Herrn, Christus den König, der uns gewinnt
und dem wir unsere ganze Person und unser ganzes Schicksal aufopfern, obwohl wir nur
tönerne Gefäße sind. Diese Spannung führt uns ständig aus uns selbst heraus. Was die
dezentrierte Gesellschaft wirklich stark macht, ist dann das zugleich väterliche und
brüderliche Mittel der ,Gewissensrechenschaft‘, weil es ihr eben hilft, besser in
die Sendung hinauszugehen.“
Hier bezieht sich der Papst auf einen besonderen
Punkt der Konstitutionen der Gesellschaft Jesu, wo geschrieben steht, dass „der Jesuit
sein Gewissen offenlegen muss“, das heißt, „seine innere Situation, die er so lebt,
dass der Obere bewusster und umsichtiger sein kann, wenn er den Betreffenden zur Erfüllung
seines Auftrags entsendet.“4
„Aber es ist schwierig, über die
Gesellschaft Jesu zu sprechen“, fährt Papst Franziskus fort: „Wenn man zuviel
erklärt, besteht die Gefahr von Missverständnissen. Die Gesellschaft Jesu kann man
nur in erzählerischer Form darstellen. Nur in der Erzählung kann man die Unterscheidung
anstellen, nicht aber in der philosophischen oder theologischen Darlegung, wo man
diskutieren kann. Der Stil der Gesellschaft Jesu ist nicht der Stil der Diskussion,
sondern jener der Unterscheidung, die natürlich die Diskussion im Prozess voraussetzt.
Das mystische Umfeld definiert nie seine Grenzen, vervollkommnet das Denken nicht.
Der Jesuit muß immer ein Mensch von unabgeschlossenem, von offenem Denken sein. Es
hat in der Gesellschaft Zeiten gegeben, in denen ein strenges, geschlossenes, eher
instruktiv-asketisches als ein mystisches Denken gelebt wurde; diese Entstellung hat
die Epitome Instituti hervorgebracht.“
Hier bezieht sich der Papst
auf eine Art praktische Zusammenfassung, die in der Gesellschaft Jesu im 20. Jahrhundert
verfasst wurde und in Gebrauch war und als ein Ersatz der Konstitutionen angesehen
wurde. Von diesem Text wurde die Ausbildung der Jesuiten lange Zeit geprägt; das ging
so weit, dass manche die Konstitutionen gar nicht mehr lasen, die doch der Gründungstext
sind. Für Papst Franziskus bargen während dieser Zeit in der Gesellschaft Jesu die
Regeln die Gefahr in sich, den ursprünglichen Geist des Ordens zu überfrachten, und
es hat die Versuchung gesiegt, das Charisma zu detailliert zu erläutern und zu fixieren.
Der
Papst fährt fort: „Der Jesuit denkt immer weiterführend, in Kontinuität, mit Blick
auf den Horizont, in dessen Richtung er gehen soll, während er Christus im Zentrum
hat. Das ist seine wahre Stärke, sie spornt ihn dazu an, auf der Suche, schöpferisch
und hochherzig zu sein. Sie muß daher heute mehr denn je contemplativa in actione
(beschaulich im aktiven Tun) sein, sie muss eine tiefe Nähe zur ganzen Kirche haben,
die als ,Volk Gottes‘ und ,heilige hierarchische Mutter Kirche‘ verstanden wird. Das
verlangt viel Demut, Opfer, Mut, besonders wenn man Unverständnis erlebt oder Ziel
von Missverständnissen und Verleumdungen ist, aber es ist die fruchtbarste Haltung.
Wir denken an die vergangenen Spannungen wegen der chinesischen und der malabarischen
Riten sowie an die Reduktionen in Paraguay.“
„Ich bin selbst Zeuge von Missverständnissen
und Problemen, welche die Gesellschaft Jesu auch in jüngster Zeit erlebt hat. Darunter
die schweren Zeiten, als es um die Ausweitung des ,vierten Gelübdes‘, des Gehorsams
gegenüber dem Papst, auf alle Jesuiten ging. Was mir zur Zeit von Pater Pedro Arrupe
Sicherheit gab, war die Tatsache, dass er ein Mann des Gebetes war, ein Mann, der
viel Zeit im Gebet verbrachte. Ich erinnere mich, wie er nach Art der Japaner am Boden
sitzend lange Zeit im Gebet verbrachte. Dadurch hatte er die richtige Haltung und
traf die richtigen Entscheidungen.“
Das Vorbild: Peter Faber, ein
„reformierter Priester“
An diesem Punkt frage ich mich, ob es unter
den Jesuiten von den Anfängen der Gesellschaft Jesu bis heute Gestalten gibt, die
ihn besonders berührt haben. Und so frage ich den Papst, ob es sie gibt, welche es
sind und warum. Der Papst beginnt mit der Nennung von Ignatius und Franz Xaver, aber
dann hält er bei einer Gestalt inne, die die Jesuiten kennen, die aber sicher nicht
allgemein bekannt ist: der selige Peter Faber (1506-1546) aus Savoyen. Er ist einer
der ersten Gefährten des heiligen Ignatius, ja der Erste, mit dem er das Zimmer teilte,
als beide Studenten an der Sorbonne waren. Der Dritte im selben Zimmer war Franz Xaver.
Pius IX. hat Peter Faber am 5. September 1872 seliggesprochen; der Heiligsprechungsprozess
ist im Gang.
Der Papst nennt eine Ausgabe von Peter Fabers „Memoriale“, die
er von zwei Jesuitenfachleuten (Miguel A. Fiorio und Jaime H. Amadeo) erstellen liess,
als er Provinzial war. Eine Ausgabe, die dem Papst besonders gefällt, ist die von
Michel de Certeau. Ich frage ihn, warum er gerade von Faber so beeindruckt ist, welche
Züge seiner Gestalt ihm imponieren: „Der Dialog mit allen, auch mit den Fernstehenderen
und Gegnern, die schlichte Frömmigkeit, vielleicht eine gewisse Naivität, die unmittelbare
Verfügbarkeit, seine aufmerksame innere Unterscheidung, die Tatsache, dass er ein
Mann großer und starker Entscheidungen und zugleich fähig war, so sanftmütig, so sanftmütig
zu sein …“.
Während Papst Franziskus die persönlichen Wesensmerkmale seines
Lieblingsjesuiten aufzählt, begreife ich, wie sehr diese Gestalt für ihn tatsächlich
ein Lebensvorbild gewesen ist. Michel de Certeau nennt Faber schlicht und einfach
den „reformierten Priester“, für den die innere Erfahrung, die dogmatische Formulierung
und die strukturelle Reform eng und unlösbar miteinander verbunden sind. Es scheint
mir also begreiflich zu sein, dass sich Papst Franziskus gerade an dieser Art von
Reform inspiriert. Der Papst fährt dann mit einer Betrachtung über das wahre Gesicht
des Gründers der Gesellschaft Jesu fort:
„Ignatius ist ein Mystiker, kein
Asket. Ich ärgere mich, wenn ich jemanden sagen höre, die Geistlichen Übungen seien
nur dann ignatianisch, wenn sie schweigend vollzogen werden. In Wirklichkeit können
auch Exerzitien, die mitten im Lebensalltag und nicht schweigend vollzogen werden,
vollkommen ignatianisch sein. Jene verzerrende Strömung, die das Asketentum, das Schweigen
und die Buße unterstreicht, hat sich besonders im spanischen Umfeld auch in der Gesellschaft
Jesu verbreitet. Ich stehe hingegen der mystischen Strömung von Louis Lallement (1578-1635)
und Jean-Joseph Surin (1600-1665) nahe. Und auch Peter Faber war ein Mystiker.“
Die
Erfahrung von Führung und Leitung
Welche Art von Leitungserfahrung
hat Pater Bergoglios Ausbildung - er war zunächst Hausoberer und dann Provinzoberer
in der Gesellschaft Jesu - weiter reifen lassen? Der Führungsstil der Gesellschaft
setzt die Entscheidung seitens des Oberen, aber auch die Konfrontation mit seinen
Konsultoren (Beratern) voraus.
Und so frage ich den Papst: „Denken Sie, dass
Ihre Führungserfahrung aus der Vergangenheit Ihnen bei Ihrer aktuellen Leitung der
Gesamtkirche dienen kann?“ Papst Franziskus wird nach einer kurzen Überlegungspause
ernst, bleibt dabei aber sehr gelassen:
„Um die Wahrheit zu sagen: In meiner
Erfahrung als Oberer in der Gesellschaft habe ich mich nicht immer so korrekt verhalten,
dass ich die notwendigen Konsultationen durchführte. Und das war keineswegs gut. Mein
Führungsstil als Jesuit hatte anfangs viele Mängel. Es war eine schwere Zeit für die
Gesellschaft Jesu: Eine ganze Jesuitengeneration war ausgefallen. Deshalb wurde ich
schon in sehr jungen Jahren zum Provinzial ernannt. Ich war erst 36 Jahre alt - eine
Verrücktheit! Ich musste mich mit sehr schwierigen Situationen auseinandersetzen und
traf meine Entscheidungen auf sehr schroffe und persönliche Weise. Ja, aber etwas
muss ich doch noch hinzufügen: Wenn ich einer Person eine Sache anvertraue, habe ich
totales Vertrauen zu dieser Person. Sie muss wirklich einen sehr schweren Fehler begehen,
damit ich sie aufgebe. Dessen ungeachtet sind die Menschen des Autoritarismus überdrüssig.
Meine autoritäre und schnelle Art, Entscheidungen zu treffen, hat mir ernste Probleme
und die Beschuldigung eingebracht, ultrakonservativ zu sein. Ich habe eine Zeit einer
großen inneren Krise durchgemacht, als ich in Cordova lebte. Nun bin ich sicher nicht
wie die selige Imelda gewesen, aber ich bin nie einer von den ,Rechten‘ gewesen. Es
war meine autoritäre Art, die Entscheidungen zu treffen, die Probleme verursachte.“
„Ich
spreche von diesen Dingen als einer Lebenserfahrung und um begreiflich zu machen,
welche Gefahren es gibt. Mit der Zeit habe ich vieles gelernt. Der Herr hat mir diese
Führungspädagogik ungeachtet meiner Fehler und Sünden gewährt. So hatte ich als Erzbischof
von Buenos Aires alle vierzehn Tage ein Treffen mit meinen sechs Weibischöfen und
mehrmals im Jahr mit dem Priesterrat. Es wurden Fragen gestellt und der Raum für die
Diskussion geöffnet. Das hat mir sehr geholfen, die besten Entscheidungen zu fällen.
Und nun höre ich gewisse Personen, die mir sagen: ,Man soll nicht zuviel beraten,
sondern entscheiden.‘ Ich glaube jedoch, dass die Konsultation sehr wichtig ist. Die
Konsistorien und die Synoden sind zum Beispiel wichtige Orte, um diese Konsultation
wahrhaftig und aktiv durchzuführen. Man sollte sie in der Form allerdings weniger
starr gestalten. Ich wünsche mir wirkliche, keine formellen Konsultationen. Das Gremium
der acht Kardinäle - diese outsider-Beratungsgruppe - ist nicht allein meine Entscheidung,
sondern Frucht des Willens der Kardinäle, wie er bei den Generalkongregationen vor
dem Konklave zum Ausdruck gebracht wurde. Und ich will, dass es echte, keine formellen
Beratungen geben wird.“
„Mit der Kirche fühlen“
Ich
bleibe beim Thema Kirche und versuche zu verstehen, was es für Papst Franziskus genau
bedeutet „mit der Kirche zu fühlen“, von dem der heilige Ignatius in seinen geistlichen
Exerzitien schreibt. Der Papst antwortet ohne zu zögern mit einem Bild:
„Das
Bild der Kirche, das mir gefällt, ist das des heiligen Volkes Gottes. Die Definition,
die ich oft verwende, ist die der Konzilserklärung ‚Lumen gentium‘ in Nummer 12. Die
Zugehörigkeit zu einem Volk hat einen großen theologischen Wert: Gott hat in der Heilsgeschichte
ein Volk erlöst. Es gibt keine volle Identität ohne die Zugehörigkeit zu einem Volk.
Niemand wird alleine gerettet, als isoliertes Individuum. Gott zieht uns an sich und
betrachtet dabei die komplexen Gebilde der zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich
in der menschlichen Gesellschaft abspielen. Gott tritt in diese Volksdynamik ein.“
„Das
Volk ist das Subjekt. Und die Kirche ist das Volk Gottes auf dem Weg der Geschichte
- mit seinen Freuden und Leiden. Fühlen mit der Kirche bedeutet für mich, in dieser
Kirche zu sein. Und das Ganze der Gläubigen ist unfehlbar im Glauben. Es zeigt diese
Unfehlbarkeit im Glauben durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes
Gottes auf dem Weg. So verstehe ich heute das ‚Sentire cum ecclesia‘, von dem der
heilige Ignatius spricht. Wenn der Dialog der Gläubigen mit dem Bischof und dem Papst
auf diesem Weg geht und loyal ist, dann hat er den Beistand des heiligen Geistes.
Es ist also kein Fühlen, das sich auf die Theologen bezieht.“
„Es ist
wie bei Maria: Wenn man wissen will, wer sie ist, fragt man die Theologen. Wenn man
wissen will, wie man sie liebt, muss man das Volk fragen. Ihrerseits liebte Maria
Jesus mit dem Herzen des Volkes - wie wir im Magnificat lesen. Man muss also nicht
denken, dass das Verständnis des ‚Sentire cum ecclesia‘ nur an das Fühlen mit dem
hierarchischen Teil der Kirche gebunden sei.“
Der Papst präzisiert nach
einer Denkpause trocken, um Missverständnisse zu vermeiden: „Freilich muss man
aufpassen, dass man nicht meint, diese Form der Unfehlbarkeit aller Gläubigen, von
der ich im Licht des Konzils spreche, sei eine Art Populismus. Nein, es ist die Erfahrung
der ‚heiligen hierarchischen Mutter Kirche‘, wie sie der heilige Ignatius genannt
hat, der Kirche als Volk Gottes, die Hirten und das Volk zusammen. Die Kirche ist
die Ganzheit des Volkes Gottes. Ich sehe die Heiligkeit im Volk Gottes, seine tägliche
Heiligkeit. Es gibt eine ‚Mittelklasse der Heiligkeit‘, an der wir alle teilhaben
können, von der Malègue spricht.“
Der Papst bezieht sich auf Joseph Malègue,
einen ihm lieben französischen Schriftsteller, geboren 1876 und gestorben 1940. Er
meint besonders seine unvollendete Trilogie „Pierres noires - die Mittelklassen des
Heils“. Manche französische Kritiker nennen ihn auch den „katholischen Proust“.
Der
Papst fährt fort: „Ich sehe die Heiligkeit im geduldigen Volk Gottes: Eine Frau,
die ihre Kinder großzieht, ein Mann, der arbeitet, um Brot nach Hause zu bringen,
die Kranken, die alten Priester, die so viele Verletzungen haben, aber auch ein Lächeln,
weil sie dem Herrn gedient haben, die Schwestern, die so viel arbeiten und eine verborgene
Heiligkeit leben. Das ist für mich die allgemeine Heiligkeit. Ich bringe Heiligkeit
oft in Verbindung mit Geduld: nicht nur die Geduld als hypomoné, als das Aufsichnehmen
von Ereignissen und Lebensumständen, sondern auch als Ausdauer im täglichen Weitergehen.
Das ist die Heiligkeit der kämpfenden Kirche, von der Ignatius auch spricht. Das war
die Heiligkeit meiner Eltern, meines Vaters, meiner Mutter, meiner Großmutter Rosa,
die mir so viel Gutes getan hat. In meinem Brevier habe ich das Testament meiner Großmutter
Rosa. Ich lese es oft: Es ist für mich wie ein Gebet. Sie ist eine Heilige, die so
viel gelitten hat - auch moralisch. Sie ist immer mit Mut vorangegangen.“
„Diese
Kirche, mit der wir denken und fühlen sollen, ist das Haus aller - keine kleine Kapelle,
die nur ein Grüppchen ausgewählter Personen aufnehmen kann. Wir dürfen die Universalkirche
nicht auf ein schützendes Nest unserer Mittelmäßigkeit reduzieren. Und die Kirche
ist Mutter. Die Kirche ist fruchtbar, und das muss sie sein. Schau, wenn ich negative
Verhaltensweisen von Dienern der Kirche oder von Ordensmännern oder -frauen bemerke,
ist das Erste, was mir in den Sinn kommt: ,eingefleischer Junggeselle!‘ oder ,alte
Jungfer!‘. Sie sind weder Väter noch Mütter. Sie sind nicht imstande gewesen, Leben
weiterzugeben. Wenn ich hingegen die Biografien der Salesianer-Missionare lese, die
nach Patagonien gegangen sind, lese ich eine von einem Leben, von Fruchtbarkeit erfüllte
Geschichte.“
Ein anderes Beispiel aus diesen Tagen: Ich habe gesehen,
dass das Telefongespräch, das ich mit einem Jungen geführt habe, der mir einen sehr
schönen Brief geschrieben hatte, von den Zeitungen aufgegriffen wurde. Das war für
mich ein Akt der Fruchtbarkeit. Ich habe mir bewusst gemacht, dass ein heranwachsender
Junge einen Pater kennengelernt hat und ihm etwas von seinem Leben erzählt. Der Pater
kann nicht sagen: ,Darauf pfeife ich!‘ - Diese Fruchtbarkeit tut mir sehr gut.“
Alte
und junge Kirchen
Ich bleibe beim Thema Kirche und stelle dem Papst
eine Frage im Licht des jüngsten Weltjugendtages: „Dieses große Ereignis hat erneut
die Scheinwerfer auf die Jugend gerichtet, aber auch auf diese ‚geistlichen Lungen‘,
die die jungen Kirchen darstellen. Welche Hoffnungen fließen aus diesen Kirchen für
die Gesamtkirche?“
„Die jungen Kirchen entwickeln eine Synthese aus Glaube,
Kultur und Leben auf dem Weg. Sie ist anders als die entwickelte Synthese der älteren
Kirchen. Für mich ist das Verhältnis zwischen den älteren Kirchen und den jüngeren
ähnlich dem Verhältnis von Jüngeren und Älteren in einer Gesellschaft: Sie bauen die
Zukunft - die Einen mit ihrer Kraft, die Anderen mit ihrer Weisheit. Sie gehen selbstverständlich
immer Risiken ein. Die jüngeren Kirchen halten sich für selbständig und autonom, die
älteren wollen den Jüngern ihre kulturellen Modelle aufdrücken. Die Zukunft baut man
aber miteinander.“
Die Kirche - ein Feldlazarett
Papst
Benedikt XVI. hat bei der Ankündigung seines Rücktritts die Welt als ein Subjekt rascher
Veränderungen gezeichnet. Sie sei bewegt von sehr relevanten Fragen für das Glaubensleben,
die Körper- und Geisteskräfte verlangten. Ich frage den Papst auch im Licht dessen,
was er mir eben gesagt hat: „Was braucht die Kirche in diesem historischen Moment
besonders? Sind Reformen nötig? Was sind Ihre Wünsche für die Kirche in den kommenden
Jahren? Von welcher Kirche ‚träumen‘ Sie?“
Papst Franziskus geht vom Anfang
meiner Frage aus und beginnt: „Papst Benedikt hat einen Akt der Heiligkeit vollbracht,
einen Akt der Größe, der Demut. Er ist ein Mann Gottes.“ Papst Franziskus zeigt
große Zuneigung und enorme Hochachtung für seinen Vorgänger.
„Ich sehe ganz
klar“ - fährt er fort - „dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit
ist, die Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen - Nähe und Verbundenheit.
Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen schwer
Verwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden
heilen. Dann können wir von allem Anderen sprechen. Die Wunden heilen, die Wunden
heilen ... Man muss unten anfangen.“
„Die Kirche hat sich manchmal in
kleine Dinge einschließen lassen, in kleine Vorschriften. Die wichtigste Sache ist
aber die erste Botschaft: ‚Jesus Christus hat dich gerettet.‘ Die Diener der Kirche
müssen vor allem Diener der Barmherzigkeit sein. Der Beichtvater - zum Beispiel -
ist immer in Gefahr, zu streng oder zu lax zu sein. Keiner von beiden ist barmherzig,
denn keiner nimmt sich wirklich des Menschen an. Der Rigorist wäscht sich die Hände,
denn er beschränkt sich auf das Gebot. Der Laxe wäscht sich die Hände, indem er einfach
sagt: ‚Das ist keine Sünde‘ - oder so ähnlich. Die Menschen müssen begleitet werden,
die Wunden geheilt.“
„Wie behandeln wir das Volk Gottes? Ich träume
von einer Kirche als Mutter und als Hirtin. Die Diener der Kirche müssen barmherzig
sein, sich der Menschen annehmen, sie begleiten - wie der gute Samariter, der seinen
Nächsten wäscht, reinigt, aufhebt. Das ist pures Evangelium. Gott ist größer als die
Sünde. Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär, sie kommen
danach. Die erste Reform muss die der Einstellung sein. Die Diener des Evangeliums
müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen
zu gehen. Sie müssen ein Gespräch führen und in die Nacht hinabsteigen können, in
ihr Dunkel, ohne sich zu verlieren. Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre
oder Staatskleriker. Die Bischöfe speziell müssen Menschen sein, die geduldig die
Schritte Gottes mit seinem Volk unterstützen können, so dass niemand zurück bleibt.
Sie müssen die Herde auch begleiten können, die weiß, wie man neue Wege geht.“
„Statt
nur eine Kirche zu sein, die mit offenen Türen aufnimmt und empfängt, versuchen wir,
eine Kirche zu sein, die neue Wege findet, die fähig ist, aus sich heraus und zu denen
zu gehen, die nicht zu ihr kommen, die ganz weggegangen oder die gleichgültig sind.
Die Gründe, die jemanden dazu gebracht haben, von der Kirche wegzugehen - wenn man
sie gut versteht und wertet - können auch zur Rückkehr führen. Es braucht Mut und
Kühnheit.“
Ich fasse zusammen, was der Papst sagt und beziehe mich dann
auf das Faktum, dass es Christen gibt, die in kirchlich nicht geregelten oder komplexen
Situationen leben, Christen, die in einer oder anderen Weise offene Wunden haben.
Ich denke an geschiedene Wiederverheiratete, homosexuelle Paare, andere schwierige
Situationen. Wie kann man in solchen Fällen eine missionarische Seelsorge pflegen?
Was betonen? Der Papst zeigt, dass er mich verstanden hat und antwortet:
„Wir
müssen das Evangelium auf allen Straßen verkünden, die frohe Nachricht vom Reich Gottes
verkünden und - auch mit unserer Verkündigung - jede Form der Krankheit und Wunde
pflegen. In Buenos Aires habe ich Briefe von homosexuellen Personen erhalten, die
‚soziale Wunden‘ sind, denn sie fühlten sich immer von der Kirche verurteilt. Aber
das will die Kirche nicht. Auf dem Rückflug von Rio de Janeiro habe ich gesagt, wenn
eine homosexuelle Person guten Willen hat und Gott sucht, dann bin ich keiner, der
sie verurteilt. Ich habe das gesagt, was der Katechismus erklärt. Die Religion hat
das Recht, die eigene Überzeugung im Dienst am Menschen auszudrücken, aber Gott hat
sie in der Schöpfung frei gemacht: Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche
Leben geben. Einmal hat mich jemand provozierend gefragt, ob ich Homosexualität billige.
Ich habe ihm mit einer anderen Frage geantwortet: ‚Sag mir: Wenn Gott eine homosexuelle
Person sieht, schaut er die Tatsache mit Liebe an oder verurteilt er sie und weist
sie zurück?‘ Man muss immer die Person anschauen. Wir treten hier in das Geheimnis
der Person ein. Gott begleitet die Menschen durch das Leben und wir müssen sie begleiten
und ausgehen von ihrer Situation. Wir müssen sie mit Barmherzigkeit begleiten. Wenn
das geschieht, gibt der heilige Geist dem Priester ein, das Richtige zu sagen.“
„Das
ist auch die Größe des Beichtvaters: jeden Fall für sich zu bewerten, unterscheiden
zu können, was das Richtige für einen Menschen ist, der Gott und seine Gnade sucht.
Der Beichtstuhl ist kein Folterinstrument, sondern der Ort der Barmherzigkeit, in
dem der Herr uns anregt, das Bestmögliche zu tun. Ich denke auch an die Situation
einer Frau, deren Ehe gescheitert ist, in der sie auch abgetrieben hat. Jetzt ist
sie wieder verheiratet, ist zufrieden und hat fünf Kinder. Die Abtreibung belastet
sie und sie bereut wirklich. Sie will als Christin weiter gehen. Was macht der Beichtvater?“
„Wir
können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen,
mit der Verhütungsmethoden. Das geht nicht. Ich habe nicht viel über diese Sachen
gesprochen. Das wurde mir vorgeworfen. Aber wenn man davon spricht, muss man den Kontext
beachten. Man kennt ja übrigens die Ansichten der Kirche, und ich bin ein Sohn der
Kirche. Aber man muss nicht endlos davon sprechen.“
„Die Lehren der
Kirche - dogmatische wie moralische - sind nicht alle gleichwertig. Eine missionarische
Seelsorge ist nicht davon besessen, ohne Unterscheidung eine Menge von Lehren aufzudrängen.
Eine missionarische Verkündigung konzentriert sich auf das Wesentliche, auf das Nötige.
Das ist auch das, was am meisten anzieht, was das Herz glühen lässt - wie bei den
Jüngern von Emmaus. Wir müssen also ein neues Gleichgewicht finden, sonst fällt auch
das moralische Gebäude der Kirche wie ein Kartenhaus zusammen, droht, seine Frische
und den Geschmack des Evangeliums zu verlieren. Die Verkündigung des Evangeliums muss
einfacher sein, tief und ausstrahlend. Aus dieser Verkündigung fließen dann die moralischen
Folgen.“
„Wenn ich das sage, denke ich auch an unsere Predigt und die
Inhalte der Predigten. Eine schöne Predigt, eine echte Predigt muss beginnen mit der
ersten Verkündigung, mit der Botschaft des Heils. Es gibt nichts Solideres, Tieferes,
Festeres als diese Verkündigung. Dann muss eine Katechese kommen. Dann kann auch eine
moralische Folgerung gezogen werden. Aber die Verkündigung der heilbringenden Liebe
Gottes muss der moralischen und religiösen Verpflichtung vorausgehen. Heute schein
oft die umgekehrte Ordnung vorzuherrschen. Die Homilie ist der Maßstab, um Nähe und
Fähigkeit der Begegnung zwischen Seelsorger und Volk zu messen. Wer predigt, muss
das Herz seiner Gemeinschaft kennen, um zu sehen, wo die Frage nach Gott lebendig
und heiß ist. Die evangelische Botschaft darf nicht auf einige Aspekte verkürzt werden.
Auch wenn diese wichtig sind, können sie nicht allein das Zentrum der Lehre Jesu zeigen.“
Erster Papst aus einem Orden nach 182 Jahren
Papst
Franziskus ist der erste Papst, der aus einem religiösen Orden kommt - nach dem Kamaldulenser
Gregor XVI., der 1831, vor 182 Jahren, gewählt wurde. Ich frage also: „Was ist heute
der spezifische Platz der Ordensmänner und Ordensfrauen in der Kirche?“
„Ordensleute
sind Propheten. Sie sind diejenigen, die eine Nachfolge Jesu gewählt haben, die sein
Leben in Gehorsam gegen den Vater, die Armut, das Gemeinschaftsleben und die Keuschheit
gewählt haben. In diesem Sinn können die Gelübde nicht zu Karikaturen werden, sonst
wird zum Beispiel das Gemeinschaftsleben zur Hölle, die Keuschheit zum Leben als alter
Junggeselle. Das Gelübde der Keuschheit muss ein Gelübde der Fruchtbarkeit sein. In
der Kirche sind Ordensleute besonders berufen, Propheten zu sein, die bezeugen, wie
Jesus auf dieser Erde gelebt hat, und die zeigen, wie das Reich Gottes in seiner Vollendung
sein wird. Ein Ordensmann oder eine Ordensfrau darf nie auf Prophetie verzichten.
Das bedeutet nicht, dass man sich gegen die hierarchische Seite der Kirche stellt,
wenn die prophetische Funktion und die hierarchische Struktur nicht übereinstimmen.
Ich spreche von einem positiven Vorschlag, der aber keine Angst machen darf. Wir denken
an das, was so viele große heilige Mönche, Ordensfrauen und -männer seit dem Abt Antonius
getan haben. Prophet zu sein, bedeutet manchmal laut zu sein - ich weiß nicht, wie
ich mich ausdrücken soll. Die Prophetie macht Lärm, Krach - manche meinen ‚Zirkus‘.
Aber in Wirklichkeit ist ihr Charisma, Sauerteig zu sein: Die Prophetie verkündet
den Geist des Evangeliums.“