Menschen in der Zeit: Andrea Nahles, SPD-Politikerin und Katholikin
Andrea Nahles ist
seit 2009 Generalsekretärin der SPD. Für die 43 Jahre alte studierte Literaturwissenschaftlerin
sind Glaube und Politik unzertrennlich. Ohne die Verbindung zwischen der Gottesliebe
und der Nächstenliebe wäre sie bestimmt nicht Politikerin geworden, sagt die bekennende
Katholikin. Trotz ihrer starken Vereinnahmung durch den politischen Alltag sucht sie
immer wieder Momente der Besinnung - am besten in Ihrer Heimat in der Eifel. Aldo
Parmeggiani hat mit der Politikerin über Religion und Politik, Karriere und anderes
mehr gesprochen.
Es ist bekannt, Frau Nahles, dass bereits die erste Jugendzeit
den Menschen prägt: waren Sie eigentlich immer schon so, wie man Sie heute beschreibt:
ungestüm, mutig, unerschrocken? Wie sehen Sie sich selbst?
„Ja, ich
würde nicht lügen, wenn meine ehemalige Grundschullehrerin dasselbe behaupten würde.
Ich habe neulich noch mit ihr geredet, mit Frau Theissen, und da hat sie mir auch
bestätigt, dass ich immer sehr lebhaft gewesen sei und auch neugierig.“ (lacht)
Es heißt: wenn man in einer ländlichen Region groß wird und sich beruflich
verändern möchte, dann müsse man schon besonders ehrgeizig sein? Sind Sie ehrgeizig?
„Ja,
das bin ich, ich glaube, das beschreibt die Sache richtig.“
Wie beschreiben
Sie denn den Ehrgeiz?
„Ich glaube, dass man immer das Gefühl hat, man
möchte vorne sein, dass man gut sein möchte, vielleicht sogar besser als andere, dass
man dafür sehr viel Kraft aufwendet, dass man sich selbst auch kritisch sieht, dass
man nicht zufrieden ist mit dem ersten Versuch, sondern einen zweiten und dritten
Versuch macht, um noch besser zu werden, und – das ist etwas, was ich von meinen Eltern
mitbekommen habe, die sehr fleißige, arbeitssame Menschen sind: Dass man so einen
Ehrgeiz für die Arbeit hat. Und Ehrgeiz in der Arbeit. Das ist etwas, was mich geprägt
hat.“
Sie kommen aus einem katholischen Elternhaus und bekennen
sich öffentlich zum Katholizismus. Welche Rolle spielte in diesem Bereich Ihr Elternhaus?
„Eine
sehr große. Erst einmal von meiner Oma her, die eine sehr gläubige Katholikin war,
die uns das auch vorgelebt hat, die uns auch mitgenommen hat. Wir hatten auch einen
Marienaltar zu Hause, da hat sie immer dafür gesorgt, dass da ein frisches Blümchen
steht, das hat sie uns alles ein Stück weit vermittelt. Meine Eltern auch, meine Eltern
sind auch sehr engagiert, mein Vater hat lange Jahre den Kirchenchor geleitet und
ist heute Vorsitzender des Kirchenchores, meine Cousine leitet den Kirchenchor jetzt,
meine Mutter ist im Verwaltungsrat der Kirche vor Ort. Also das war immer schon ein
starkes Moment, dass man sich in der Kirche engagiert. Das ist bevor ich mich politisch
engagiert habe, bei uns zu Hause alles selbstverständlich gewesen.“
Inzwischen
sind Sie die bekannteste Politikerin aus der Eifel geworden. Sind Sie stolz, sind
Sie zufrieden?
„Also ich bin erst einmal froh, dass ich auch eine Fahnenträgerin
für die Eifel bin. Die Eifel war über viele Jahrhunderte ein Armenhaus, die Menschen
mussten weite Wege gehen, zum Beispiel als Steinmetze nach Köln zum Dom, um da zu
arbeiten, während die Frauen, bei der Feldarbeit und zu Hause, alleine gelassen wurden.
Von diesem Image haben wir uns emanzipiert, dazu haben viele beigetragen, zum Beispiel
auch Krimiautoren oder Mario Adorf, der aus der Eifel stammt, und vielleicht auch
ein bisschen ich. Und das ist toll, das ist nämlich eine sehr spannende Ecke, Vulkanismus
ist ja da sehr prägend, landschaftlich auch sehr schön und eine Reise wert. Das Wetter
ist ,nicht immer so dolle‘, aber ich bin an der Stelle auch der Meinung, dass man,
wenn man wirklich Hitze will, im Sommer vielleicht nach Griechenland fliegt… Aber
wenn man in eine schöne Landschaft will, da kann man auch in die Eifel kommen.“
Frauen schaffen es bis heute nur selten nach oben. Woran liegt das?
„Ich
glaube, dass Frauen erst einmal sich selbst nicht so sehen. Es gibt nicht so viele
Vorbilder, dass sie deswegen einen anderen Ehrgeiz haben, einen Ehrgeiz, der sich
stärker auf andere Ziele – mittlerweile beruflich, aber auch familiär – bezieht. Zweitens
gibt es aus meiner Sicht immer noch sehr viel informelle Netzwerke der Männer, die
nicht irgendwo institutionalisiert sind. In den offiziellen Gremien haben Frauen mittlerweile
schon den Vormarsch angetreten, aber da, wo es wirklich informelle Seilschaften gibt,
da werden sie gerne rausgehalten. Deswegen sage ich: Frauen, traut euch was zu und
vernetzt euch!“
Sie gaben in der Abiturzeitung einst als Berufswunsch
„Hausfrau oder Bundeskanzlerin“ an. Das eine Ziel haben Sie erreicht, fühlen Sie sich
dem zweiten schon nahe?
„Sie meinen, die Hausfrau habe ich erreicht…
(lacht). Das war natürlich ein Witz, weil ich eine der wenigen war, die sich politisch
engagiert haben bei uns im Abiturjahrgang. Aber ich würde fast behaupten, ich bin
momentan näher an der Bundeskanzlerin dran, als an der Hausfrau.“
Was
ist wichtiger in der Politik: reden oder schweigen zu können?
„Ich hätte
vor 15 Jahren wahrscheinlich gesagt: reden. Heute würde ich sagen: zu schweigen.“
Sie sind Mutter eines Kindes: Wie gelingt es Ihnen, den harten Stress
Ihres Berufes mit den Verpflichtungen einer Erzieherin zu vereinbaren?
„Das
gelingt mir erstens, indem ich mir regelmäßig feste Zeit nehme, wenn ich zu Hause
bin, das Handy ausschalte und mich meiner Tochter und meinem Mann widme. Zweitens:
durch die Hilfe meines Mannes und meiner Familie. Mein Mann ist jetzt in Elternzeit
und er hat eigentlich die Hauptverantwortung für die Erziehung im Alltag. Und dann
– wenn es notwendig ist, und auch, weil sie’s gern machen und weil sie noch sehr fit
sind – kümmern sich meine Eltern. Es geht eigentlich nur, weil ich Freunde und Familie
und vor allem meinen Mann habe, der mir dabei hilft. Und indem ich auch mal abschalte
und Politik Politik sein lasse.“
Sie sind unumstritten eine
Führungspersönlichkeit auf der bundesdeutschen Bühne der Politik. Wie sehen Sie sich
selbst in dieser Rolle?
„Immer noch ein bisschen komisch. Also ich empfinde
das nicht so jeden Tag. Klar, ich bin eines von den zentralen Fernsehgesichtern, das
jeder kennt. Wenn ich durch Deutschland laufe, erkennen mich alle auf der Straße –
da fällt mir am ehesten auf, dass ich jetzt dazugehöre, zu einer Gruppe von Menschen.
Aber im Alltag versuche ich eigentlich Aufgaben zu lösen, die Partei jetzt im Wahlkampf
zu managen… Ich nehme mich jetzt nicht unbedingt so wahr als eine der herausgehobenen
Leute, es ist mir irgendwie fremd, so zu denken.“
Was bedeutet
für Sie der Staat schlechthin?
„Der Staat schafft die Voraussetzung
für ein Leben, das allen Menschen die gleichen Chancen gewährleistet. Und da, wo dies
nicht auf den ersten Versuch klappt, mal eine Brücke baut oder eine Leiter hinstellt,
damit es auch in einem zweiten oder dritten Versuch gelingen kann. Der Staat ist für
mich jemand, der ordnet, der Leitplanken aufstellt, aber möglichst so, das nicht die
Freiheit des Einzelnen dadurch beschränkt wird, sondern dass jeder selbst bestimmt
und sein Leben leben kann, wie er möchte.“
Wie sollte eine
soziale Moderne heute aussehen?
„Ich glaube, wir brauchen ,mehr wir‘
und ,weniger ich‘. Es ist mir zu viel Ellenbogen-Ideologie gerade in den 80-, 90-iger
Jahren propagiert worden, wo häufig auch Wettbewerb zum einzigen Maßstab gemacht worden
ist. Ich glaube, dass wir wieder mehr auf Gemeinschafts-Zusammenhalt setzen müssen,
dass wir wieder Rücksicht üben müssen, gerade mit jungen Menschen. Das ist auch ein
Wunsch von mir für meine Tochter, dass ich ihr vermitteln kann, dass es wichtig ist,
Rücksicht und Respekt zu haben vor anderen. Da sehe ich die persönliche Aufgabe in
der Erziehung, und das wünsche ich mir auch für die Gesellschaft. Und dazu will ich
als Politikerin beitragen.“
Wann haben Sie das erste Mal gespürt,
dass die Politik der richtige Weg für Sie ist?
„Ich habe gemerkt, ich
kann vor hunderten Leuten reden und habe nicht so viel Angst wie andere. Ich habe
keine Scheu sozusagen, meine Meinung zu vertreten. Und ich habe das schon relativ
früh gemerkt. So mit 20, 21 Jahren bin ich dann Landesvorsitzende der Jugendorganisation
der SPD in meinem Heimatland Rheinland-Pfalz geworden. Das war ein Schritt, wo ich
gemerkt habe: das liegt mir.“
Großes Lob wurde Ihnen vom christliche
Forum für Ihre Haltung während Ihrer Schwangerschaft zuteil. Sie haben sich ganz entschieden
gegen die Abtreibung ausgesprochen, sie haben in der unseligen Missbrauchsdebatte
die einseitigen Attacken gegen die katholische Kirche kritisiert und haben sich mehrmals
zur Gottes- und Nächstenliebe öffentlich bekannt. Das hört man selten von Menschen
aus dem Lager der SPD…
„Ja, es ist ja so, dass ich damit durchaus manchmal
auch anecke, auch in meiner eigenen Partei. Wir haben zum Beispiel eine Debatte im
Deutschen Bundestag gehabt über Präimplantationsdiagnostik, wo ich dann ganz merkwürdig
Applaus von der rechten Seite des Hauses bekam, das war eine sehr seltsame Erfahrung.
Rechts sitzt die CDU, CSU wohlbemerkt und links meine eigene Partei. Das ist schwierig
manchmal, das muss man eben auch aushalten. Ich bin mit Herz und Seele Sozialdemokratin,
aber ich erlaube mir eben auch, einen Standpunkt zu vertreten, der sich vor allem
dem christlichen Menschenbild und meinem christlichen Glauben verpflichtet fühlt.
Das führt dann manchmal auch zu Schwierigkeiten mit der eigenen Partei, manchmal aber
auch mit der christdemokratischen Partei Deutschlands, die sich auch nicht immer aus
meiner Sicht an dem orientiert, was eigentlich in ihrem Namen drinsteht.“
Für Andrea Nahles sind Glaube und Politik unzertrennlich: Ohne die Verbindung
zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe wären Sie bestimmt nicht Politikerin geworden.
Diese Aussage stammt von Ihnen, ausgesprochen beim diesjährigen Eucharistischen Kongress
in Köln.
„Ja genau. Bevor ich den Blick geöffnet habe für gesellschaftlich-politische
Fragen, habe ich erstmal ein starkes Gefühl und eine starke Erfahrung von Gemeinschaft
im christlichen Glauben erlebt. In der Familie, dann eben als Messdienerin und dann
in der ökumenischen Jugendgruppe: das hat mich sehr beeinflusst. Bevor ich dann mit
18 Jahren in die SPD eingetreten bin, ist ja schon eine Menge passiert – was meine
Werte angeht, was meine Orientierung angeht. Und deswegen: das eine ist ohne das andere
gar nicht denkbar.“
Nun gehört das Geheimnis der Eucharistie
zu den Kernpunkten des katholischen Glaubens: In der Wandlung von Brot und Wein ist
Christus gegenwärtig. Wie erleben Sie dieses Hochgebet in der Heiligen Messe?
„Das
ist, ganz ehrlich gesagt, unterschiedlich. Es gelingt mir oft im Versenken, auch nachdem
ich die Kommunion empfangen habe, sehr intensiv eine Glaubenserfahrung hinzukriegen
– manchmal gelingt es, manchmal aber auch nicht. Manchmal bin ich einfach zu abgelenkt,
oder mich beschäftigen zu viele andere Sachen. Das ist sehr unterschiedlich. Ich glaube,
es wäre gelogen, wenn ich behauptete, es wäre immer möglich, diese Nähe zu spüren
zu Gott. Aber sie ist oft zu spüren, und das freut mich natürlich.
Und
ich bin auch jemand – und da bin ich sehr katholisch, der die Gemeinschaft, den Raum,
die Kirche, als Inspiration, als Ort braucht, um eben so eine Erfahrung machen zu
können. Ich bin nicht jemand, der so stark davon beeindruckt ist, zu sagen: Das kann
ich alles mit mir selber ausmachen, für mich ist schon die Kirche, der Ort, der Raum,
die Erfahrung mit Gläubigen mit anderen sehr wichtig, um dieses Zugang zu Gott auch
zu finden.“
Sagen Sie uns abschließend noch ein paar Worte über unseren
neuen Papst Franziskus?
„Wow! Sage ich zunächst einmal. Ich hatte mich
gefreut, das war eine unerwartete, aber auch sehr positive Reaktion, die ich erfahren
habe. Ich freue mich darüber, dass er sich der sozialen Fragen intensiv annimmt. Ich
erwarte von ihm, dass er sich den Menschen zuwendet. Das tut er, und das freut mich.
Ich will damit keine Wertung abgeben, aber ich finde, er bringt frischen Wind herein,
und er hat meiner Meinung nach die Kraft, die katholische Kirche insgesamt wieder
sowohl im Glauben als auch in der Zuwendung zum Menschen zu stärken. Das ist schön.“