Favelas in Rio: „Wir brauchen keine Polizeigewalt, sondern Perspektiven“
Der Papstbesuch in einem Armenviertel Rios erinnert an eines der dunkleren Kapitel
der Gesellschaft des Landes: Die Gewalt zwischen Arm und Reich, an die Polizei- und
Militäreinsätze in den Favelas und die Gewalt, die mit der Kriminalität verbunden
sind. Die Favelas sind ein Ort, in dem die Gewalt alltäglich ist, auch die, die mit
der Befriedung der Viertel durch Spezialeinheiten verbunden ist. Auch das soll bei
diesem WJT nicht verdrängt werden. Ein Bericht unserer Korrespondentin Anne Preckel:
Investitionen
in Lebensqualität und Bildung sind nach Ansicht des 28-jährigen Brasilianers Valmir
das beste Mittel zur Befriedung der Favelas in Rio, Polizeigewalt bringe nichts und
schaffe nur einen „Scheinfrieden“. Der angehende Geschichtslehrer, der selbst in einem
Armenviertel wohnt, ist auf dem Weltjugendtag in das Forum „International Youth Hearing“
involviert. Ganz früher sei er selbst im Drogengeschäft gewesen, erzählt der junge
Mann, der an diesem Mittwoch in Rio zusammen mit Caritas-Bischof Flavio Giovenale
auf dem Podium über Gewalt und Gerechtigkeit diskutierte.
„Wenn man Bildung
und einen Job hat braucht man nicht in den Drogenverkehr einzusteigen oder da hinterherzurennen.
Die Polizei geht ja nur in die Favelas, um gegen den Drogenverkehr zu kämpfen. Es
ist aber so, dass keine Sozialpolitik existiert, die Arbeit schafft und das geforderte
Lebensniveau bringt, um den ganzen Drogenverkehr letztlich nutzlos zu machen.“
Der
gebürtige Carioca, wie man die Einwohner Rios hier nennt, kam selbst durch einen engagierten
Pater vom Drogengeschäft weg. Langsam ist er durch den Kontakt in die kirchliche Gemeindearbeit
hineingewachsen:
„Angefangen habe ich mit Katechesen für Kinder, dann habe
ich in der Gemeinde eine Jugendgruppe koordiniert und ich habe gelernt, Instrumente
zu spielen, um beim Gottesdienst Musik zu machen. Danach habe ich mich in der Jugendpastoral
der Erzdiözese von Rio weiter engagiert, und heute gehöre ich zur kirchlichen Jugend
hier.“
Der Papst besucht an diesem Donnerstag die Favela Varginha. Das
Armenviertel war in früheren Jahren Schauplatz blutiger Bandenkriege zwischen verfeindeten
Drogenkartellen. Inzwischen gilt es als befriedet. Wird auch Valmir am Donnerstag
in diese Favela gehen, um den Papst zu sehen?
„Naja, diese Favela ist ja
recht klein, da können nicht viele Leute hin. Ich sehe den Papst bei anderen Gelegenheiten
auf dem Weltjugendtag, am Donnerstag in der Favela sind andere Jugendliche dabei.“
Von
der Befriedung der Favelas durch die brasilianische Polizei hält der junge Mann nicht
allzu viel. Er hat schlechte Erfahrungen gemacht. Und während Bischof Giovenale für
eine Reform der Militärpolizei plädiert – „Wir brauchen eine Polizei mit Bürgerbewusstsein“
-, würde Valmir die Spezialeinheit, die die Favelas vom Drogengeschäft säubern soll,
lieber abgeschafft sehen. Die Befriedung der Favelas sei oftmals nur ein Schein, und
zwar ein blutiger:
„Dieser Frieden ist nur ein Scheinfrieden und der Prozess
der Befriedung ist oberflächlich; er löst nicht wirklich das Gewaltproblem. Personen
sterben dann eben nicht mehr durch Schüsse, sondern durch Stiche. Stiche, weil Messer
nicht laut sind. Die Gewalt besteht auch mit Polizeipräsenz weiter.“
Die
Sicherheit für die Bevölkerung sei „wichtig“, ist Valmir überzeugt. Doch die Polizeigewalt
sei „nicht die beste Form“, das durchzusetzen. Verlierer der oft rabiaten Maßnahmen
seien die jungen Leute, so der 28-Jährige, der „die Armen und die Schwarzen“ als letzte
Glieder der brasilianischen Gesellschaft beschreibt:
„Die Leute in der Favela
werden kriminalisiert, es gibt da einen Generalverdacht. Und diese Kriminalisierung
schadet vor allem der Jugend. Wir bekommen das dann ab, wenn die Polizei in die Favela
kommt, um dem Drogenhandel zu bekämpfen. Wir werden von ihnen nicht als Bürger behandelt
und nicht mit dem Respekt, den wir eigentlich verdient hätten. Sie behandeln Leute
aus der Favela als minderwertige Menschen.“
Kann der Papstbesuch die Lage
der Menschen in Varginha und in den insgesamt 700 Favelas von Rio verbessern? In der
Metropole leben insgesamt 1,5 Millionen Menschen in solchen Armenvierteln. Der Papstbesuch
sei in jedem Fall ein Appell und ja, Franziskus habe das Zeug dazu, ein wenig Licht
ins Dunkel der Armut zu bringen, meint Valmir:
„Der Papst schaut aufs Volk,
die Kirche schaut aufs Volk, wir alle sollen auf das Volk schauen. Es sind so viele
Jugendliche in dieser Gewalt gefangen. Der Papst als Zeuge Christi kann diese Situation
verändern.“
Das „International Youth Hearing“ auf dem Weltjugendtag ist
eine Initiative der Hilfswerke MISEREOR und Adveniat und dem Bund der katholischen
Jugend (BDKJ). Idee ist die Entwicklung von Visionen für eine gerechtere Welt und
eine Umsetzung der Option für die Armen im Alltag. Dazu diskutierten junge Leute mit
Vertretern aus Kirche, Politik und Gesellschaft.