Wenige Wochen vor
dem Weltjugendtag gehen die Demonstrationen in Brasilien weiter: Auch am Sonntag versammelten
sich in mehreren Städten erneut Protestanten, um gegen Korruption und staatliche Verschwendung
zu demonstrieren. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff hatte sich am Freitag zum
ersten Mal seit Beginn der Unruhen vor knapp zwei Wochen an die Bevölkerung gewandt
und ihre Landleute zu Einheit aufgerufen. Weiter stellte sie Verbesserungen der öffentlichen
Dienstleistungen und mehr Anstrengungen gegen die Korruption in Aussicht. Am Dienstag
trifft sie sich mit Vertretern der brasilianischen Bischofskonferenz, wobei auch eine
Lagebesprechung zum kommenden Weltjugendtag auf dem Programm stehen dürfte. Wir haben
mit unserer Kollegin Bianca Fraccalvieri von der brasilianischen Redaktion von Radio
Vatikan über die Hintergründe der Proteste und ihre Auswirkungen auf den kommenden
Weltjugendtag gesprochen.
„Es begann mit der Unzufriedenheit über die Bustarife.
Die Reaktion der Polizei war sehr gewalttätig auf einer der ersten Demonstrationen.
Und viele Menschen sind auch auf die Straße gegangen, um einfach ihr Demonstrationsrecht
wahrzunehmen. Doch dann sind andere Gründe für die Proteste hinzugekommen: Vor allem
die Korruption, die enormen Kosten für die Organisation der Fußballweltmeisterschaft
im Jahr 2014 und auch die Probleme zwischen der Rechtsprechung und dem Kongress. Es
gibt viele Forderungen auch im Bereich des Gesundheitswesens und im Bildungsbereich.“
Grundton
bei den Demos: die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Brasiliens wirtschaftlicher
Aufschwung ging nicht mit einer flächendeckenden Entwicklung im sozialen System einher:
Viele Probleme gibt es etwa in der Gesundheitsversorgung; das staatliche System ist
finanziell und personell schlecht ausgestattet, was vor allem die armen Teile der
Bevölkerung belastet. In diesem Punkt treffen sich auch die Anliegen der Bürger und
der Kirche im Land, die sich für eine ganzheitliche Entwicklung Brasiliens ausspricht,
die allen im Lande zugutekommt. Fraccalvieri:
„Brasiliens Entwicklungsmodell
gründet sich auf den internen Konsum. Die Regierung hat einen Konsum stimuliert, bei
dem man alles im Land in Raten kauft, alles, angefangen bei einem Hemd für 15 Euro,
das man in drei Raten von fünf Euro bezahlen kann, bis hin zu einem Auto oder einem
Haus. Das hat es den Ärmsten ermöglicht, dass sie ein etwas besseres Leben haben konnten.
In anderen Bereichen aber haben wir keine Ergebnisse gesehen – nicht im Bildungsbereich
und vor allem im Gesundheitsbereich.“
Präsidentin Dilma Rousseff hat für
diesen Montag ein Treffen mit Vertretern der Lokalpolitik anberaumt, auf dem ein „nationaler
Pakt“ auf den Weg gebracht werden soll. Mit Versprechungen gäben sich viele Leute
nicht mehr zufrieden, so Fraccalvieri, sie forderten jetzt spürbare Verbesserungen.
Auch die katholischen Bischöfe des Landes sehen ein neues Bewusstsein in der brasilianischen
Gesellschaft erwacht. Ein erster Schritt der Regierung auf die Demonstranten zu sei
gewesen, die geplante Erhöhung der Bustarife zurückzunhemen, so Fraccalvieri; zum
Sprachrohr der Forderung hatte sich die Bewegung „Movimento Passe Livre“ (MPL) gemacht,
deren Vertreter Rousseff an diesem Montag traf. Schnelle Kompromisse bei den anderen
Punkten werde es aber wohl kaum geben – dazu seien die Forderungen zu komplex und
auch regional zu vielfältig, meint Fraccalvieri:
„Es ist eine generelle
Unzufriedenheit, und in jeder Stadt, in der man demonstriert, demonstriert man auf
Grundlage der lokalen Realität. Was man also in Curitiba fordert, ist nicht dasselbe,
was man in Rio will oder in Brasilia. Es gibt also eine Reihe von Motiven. Und das
Problem, das wir jetzt haben, sind auch die fehlenden Anführer der Proteste, denn
die Regierung kann nicht mit einer bestimmten Gruppe sprechen, es geht um so viele
Dinge.“
Inwiefern die Proteste die Durchführung des Weltjugendtages Ende
Juli in Rio de Janeiro gefährden könnten, ist kaum abzusehen. Das lokale Organisationskomitee
und der Vatikan sind jedenfalls nach wie vor zuversichtlich, dass alles nach Plan
ablaufen kann und dass die Sicherheit des Papstes, der Pilger und der Bevölkerung
nicht gefährdet wird. Erfahrung mit Massen-Events hat Rio de Janeiro schon – doch
auch die brasilianische Regierung mit Massenprotesten? Dazu Fraccalvieri:
„Das
Problem ist, dass das etwas Unbekanntes ist bei uns. Die letzte Volksbewegung dieser
Art gab es im Jahr 1992, das Volk geht also schon jahrzehntelang nicht mehr auf die
Straße… Bei den aktuellen Protesten gab es bisher zwei Tote, viele Festgenommene und
Verletzte, weil die Polizei ziemlich heftige Methoden einsetzt. Bei den ersten Protesten
gab es keinen Vandalismus, doch nachher schon. Ein Gruppe ,Black Block‘ hat damit
begonnen und ja, da gab es viele Probleme, vor allem in São Paolo, Rio, Brasilia und
Fortaleza.“
Aus Sorge vor Eskalationen hatte die brasilianische Protestbewegung
„Movimento Passe Livre“ (MPL) weitere Demonstrationen für das vergangenen Wochenende
in São Paulo abgesagt. Extreme Rechte und militante Gruppen, die „außer Gewalt und
Plünderungen nichts anderes im Sinn“ hätten, drohten sich unter die friedlichen Proteste
zu mischen, gab die Bewegung an. In Rio nahmen am Sonntag 4.000 Menschen an einer
Demonstration gegen Korruption teil, in Fortaleza gingen 500 Menschen. Auch außerhalb
des Landes zeigten sich Brasilianer mit ihren Landsleuten solidarisch und gingen auf
die Straße, darunter in Toronto, Buenos Aire, Mexiko Stadt, London, Paris und Bologna.
Insgesamt haben die Proteste in Brasilien inzwischen ein wenig abgenommen; allerdings
wird in sozialen Netzwerken zu einem Generalstreik für den 1. Juli aufgerufen.