Ostafrika: Die Bedeutung der kleinen christlichen Gemeinschaften
An einem Wochentag,
irgendwo in Nairobi, der Hauptstadt von Kenia. Fünfzehn Personen in einem Zimmer,
einer liest laut aus der Bibel vor. Was das ist? Das Treffen einer „Kleinen christlichen
Gemeinschaft“, auf englisch „small christian community“, abgekürzt scc.
„Kleine
christliche Gemeinschaften sind ein way of life, ein Lebensstil. Sie sind kein Projekt
– das ist entscheidend –, sondern eine Lebeweise.“ Das sagt uns der US-Missionar
Joseph Healey, der in Nairobi arbeitet.
„Insgesamt gibt es in Ostafrika
mittlerweile 140.000 kleine christliche Gemeinschaften; allein in Kenia sind sie 45.000.“
Kaum
einer kennt sich so gut aus mit diesen Gemeinschaften wie Healey. Der Maryknoll-Missionar
hat viel über sie geforscht, seit fünf Jahren doziert er über sie am Hekima und am
Tangaza Institut in Nairobi. Aber er sagt:
„Ich bin ein gewöhnliches Mitglied
einer kleinen christlichen Gemeinschaft namens St Kizito in einer Pfarrei von Nairobi.
Dass ich Bücher über kleine christliche Gemeinschaften schreibe und zu dem Thema unterrichte,
hat nur damit zu tun, dass ich selbst zu so einer Gemeinschaft gehöre. Als Priester
habe ich keinerlei Führungsrolle in meiner Gruppe, auch keine besondere Verantwortung,
ich lebe und lerne einfach, wie das ein neues Modell von Kirche sein kann, eine neue
Art, heute in der Welt Kirche zu sein.“
St Kizito: Die Gruppe, zu der Healey
gehört, hat sich unter den Schutz eines Märtyrers aus dem Uganda des 19. Jahrhunderts
gestellt. Kizito war ein 13-jähriger Junge, Gefährte des heiligen Charles Lwanga,
mit dem zusammen er wegen seines Glaubens umgebracht wurde. Die insgesamt 22 Afrikaner
dieser Gruppe wurden in den sechziger Jahren von Papst Paul VI. heiliggesprochen:
ein wichtiger Schritt zur Inkulturation des Christentums in Afrika.
„Ich
halte es für sehr wichtig, dass jeder Priester, Bischof oder Katechist sich an eine
kleine christliche Gemeinschaft hält“, sagt Pater Healey.
Und er
zitiert den Ausspruch eines afrikanischen Bischofs vor ein paar Jahren auf einer Bischofssynode
in Rom:
„Liebe Brüder Kardinäle und Bischöfe, denkt daran, dass wir Bischöfe,
Priester und Ordensleute in der katholischen Kirche gerade mal ein Prozent ausmachen
– und 99 Prozent sind Laien! Genau das drückt sich in den kleinen christlichen Gemeinschaften
aus: 99 Prozent ihrer Mitglieder sind Laien, sie sind verantwortlich, sie sind die
Anführer. Wir Priester sind nur Möglichmacher oder Helfer.“
Die scc entstanden
in Ostafrika kurz nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die Bischöfe der Region wollten
damit die Definition von Kirche, die das Konzil gegeben hatte, in die Wirklichkeit
übersetzen: die Kirche als das Volk Gottes.
„Die Bischöfe entwickelten
ein neues Kirchenmodell, um bis zum Graswurzel-Level vorzudringen. 1963 und 1966 haben
Ostafrikas Bischöfe eindeutig formuliert, die erste pastorale Priorität der Kirche
in der Region müsse es sein, kleine christliche Gemeinschaften zu bilden. Es ist eine
neue Sprache, eine neue Art und Weise des Kircheseins, ein neues Modell des heutigen
Kircheseins. Die Entscheidung der Bischöfe damals ging dahin, dass sich die Pfarreien,
die so lebenswichtig sind für die Entwicklung der Kirche, sozusagen aus diesen kleineren
Gemeinschaften zusammensetzen sollten. Dabei sollte von unten, von der Basis aus angefangen
werden. In dieser Sicht bildet eine Gruppe von ein paar Familien eine kleine christliche
Gemeinschaft, und eine Gruppe von ein paar kleinen Gemeinschaften bildet einen Außenposten,
eine Sub-Pfarrei. Und mehrere Sub-Pfarreien zusammen sind eine Pfarrei.“
Eine
„Gemeinschaft aus Gemeinschaften“ – das sollen diese Basisgruppen sein. Kein Gegen-
und auch kein Nebenprogramm zum normalen Pfarreileben, das ist für den Maryknoll-Missionar
Healey, der seit 1968 in Ostafrika arbeitet, ganz entscheidend.
„Wichtig
ist, dass sie eng an das Pfarreileben angeschlossen sind. Oft sind es die Vertreter
der kleinen christlichen Gemeinschaften, die den Pfarrgemeinderat bilden.“
Die
Basisgruppen müssen weiter am Weinstock der Kirche hängen, sonst werden sie zu einem
Problem. Pater Healey betont, dass kleine christliche Gemeinschaften hinter vielen
Aktivitäten in ostafrikanischen Pfarreien stecken:
„Wenn zum Beispiel ein
junges Paar kommt, um sein Baby taufen zu lassen, dann sagt der Pfarrer bei uns nicht
sofort ‚Ja’, sondern er sagt: ‚Ich will erst einmal die Meinung einer kleinen christlichen
Gemeinschaft einholen.’ Oder wenn jemand heiratet, dann bereitet die kleine Gemeinschaft
alles vor. Viele der pastoralen Aktivitäten der Pfarreien verlaufen also durch die
kleinen Gemeinschaften.“
Der „Schlüssel“ der kleinen christlichen Gemeinschaften
sind aus der Sicht von Pater Healey die Bibeltreffen.
„Wir nennen sie „faith-sharing
groups“, Gruppen, in denen der Glaube geteilt wird. Sie halten sich an den Dreijahres-Zyklus
der biblischen Lesungen des Lektionars: Lesejahr A, B und C. Jeden Sonntag vor der
Messe treffen sich die Nachbarschaftsgruppen zuhause, sie bestehen aus höchstens zwanzig
Leuten aus dem selben Bezirk; sie lesen das Evangelium von diesem Sonntag, denken
gemeinsam darüber nach und stellen – das ist das Wichtigste – einen Bezug zu ihrem
täglichen Leben her. Wir lassen uns dabei von römischen Dokumenten inspirieren, etwa
von denen der ersten und zweiten Vatikan-Bischofssynode für Afrika oder der Synode
vom letzten Oktober zum Thema Neuevangelisierung. All diese Dokumente bekräftigen,
dass kleine christliche Gemeinschaften im Herzen der Erneuerung und des Wachstums
der katholischen Kirche stehen!“
Es sei für ihn „aufregend“, dass das Unterrichtsfach
über kleine christliche Gemeinschaften mittlerweile an einem Institut der Katholischen
Uni von Nairobi eines der Pflichtfächer im Bereich der Pastoralen Theologie ist.
„Vor
zwei Jahren baten mich die Bischöfe Ostafrikas um eine Evaluierung der Gemeinschaften
nach vierzig Jahren Erfahrungen mit ihnen. Und eines der Hauptergebnisse der Evaluierung
war, dass jeder Priester während seiner Ausbildung an einem Kurs über kleine christliche
Gemeinschaften teilnehmen sollte. Es ist zu spät, wenn der Priester schon geweiht
ist und in eine Pfarrei geschickt wird; stattdessen sollte das Teil des Seminaristen-Lehrplans
sein. Das wurde tatsächlich umgesetzt. Im letzten Semester, das gerade im Mai zu Ende
gegangen ist, hatte ich 52 Studenten in meinem Kurs. Sie haben entdeckt, dass es eine
neue Energie im Leben der Kirche gibt, wenn man in den Pfarreien kleine christliche
Gemeinschaften hat.“
Die Laien seien jetzt in der Kirche „nicht mehr nur
Zuschauer, sondern Teilnehmer“. Darin bestehe „die ganze Idee: ein Teilhabe-Modell
von Kirche, wo Laien Verantwortung übernehmen“. Die Gruppen läsen nicht nur gemeinsam
in der Bibel, sondern verabredeten sich auch zu gemeinsamen Aktionen, etwa um Bedürftigen
zu helfen.
„Vor ein paar Jahren besuchte ich Europa und kam auch nach Deutschland.
Da fragte ich die Leute: Haben Sie hier kleine christliche Gemeinschaften? Die antworteten:
Also, solche Gemeinschaften sind bei uns wie fliegende Untertassen – alle reden über
sie, aber keiner hat je eine gesehen! Dann habe ich gesagt: Kommen Sie nach Ostafrika,
da sehen Sie welche!“
Die kleinen christlichen Gemeinschaften treffen sich
normalerweise einmal pro Woche im Haus eines Mitglieds, immer reihum. Da sitzen die
Teilnehmer dann im Kreis zusammen. Der überschaubare Rahmen ist gewollt, erklärt Pater
Healey:
„Der Gründungsbischof von kleinen Gemeinschaften in Tansania, Christopher
Mwoleka, sprach immer von einer Gemeinschaft mit menschlichem Antlitz: Wir sollten
so wenige sein, dass wir problemlos im Kreis sitzen können; jeder sollte jeden kennen.
Unsere Treffen sind in der Regel nachmittags gegen drei, sie dauern immer ungefähr
anderthalb Stunden; als erstes reden wir über unseren Alltag. Über Krankheiten, Hochzeiten,
Geburten – alles, was in der letzten Woche so passiert ist. Danach lesen wir das Evangelium
vor – manchmal in mehr als einer Sprache, also auf Englisch und auf Swahili. Und danach
fragen wir: Welcher Satz, welches Wort hat mich getroffen oder ist mir aufgefallen?
Danach lesen wir es noch mal, und anschließend halten wir für eine Weile Stille, während
der wir auf Gott hören.“
Bei dieser „mehr betenden und meditierenden Art
und Weise, das Evangelium zu lesen“, lassen sich ostafrikanische Basisgruppen von
Papst Benedikt XVI. inspirieren, so der US-Missionar: Dieser Papst habe einiges getan,
um diese sogenannte Lectio divina zu fördern.
„Nach der Zeit der Stille
fragen wir uns jedes Mal: Was sagt uns Gott jetzt, durch die Heilige Schrift? Wir
versuchen, die Heilige Schrift mit unserem Alltagsleben in Beziehung zu setzen, und
danach halten wir noch Fürbitten und sprechen wieder einfach so zusammen. Und ganz
am Ende unserer Treffen beten wir sehr ausführlich in allen Anliegen unserer Gruppe
und der ganzen Welt, und zum Schluss geben wir uns den Friedensgruß. In der afrikanischen
Kultur ist das sehr wichtig, dass wir aufstehen und jeder jedem den Frieden wünscht.
Das sind unsere wöchentlichen Treffen in der Gemeinschaft; aber dann treffen wir uns
noch andere Male zu praktischer Aktion.“
Einmal im Jahr feiert Pater Healeys
Gruppe Namenstag: am 3. Juni. Das ist das Fest der ugandischen Märtyrer, zu denen
auch St Kizito gehört, der Schutzpatron der kleinen Gemeinschaft.
„Jedes
Jahr am 3. Juni treffen wir uns also in der Gruppe zu einer Messe und zum Essen –
das gibt uns eine bestimmte Identität, dass wir einen Heiligen zum Patron haben.“
„Wir
glauben an das Networking von Gemeinschaften untereinander“, so der Missionar.
„Dazu gibt es eine Internetseite: smallchristiancommunities.org. Hier
sind alle diese Gemeinschaften aus der ganzen Welt aufgeführt. Die Seite bietet E-books,
Veranstaltungshinweise, Bibelzitate, praktisches Material. Wir teilen unser Leben.
Eines meiner Lieblings-Sprichwörter sagt: Eine Hand wäscht die andere.“
Hier
zeigt sich die zweite große Leidenschaft von Joseph Healey: Er sammelt afrikanische
Sprichwörter, gilt derzeit als einer ihrer ausgewiesensten Experten. Auch über sie
hat er einiges veröffentlicht. Ein Buch von 1989 heißt: Kueneza Injuili Kwa Methali
– das Evangelium predigen durch Sprichwörter.